Die Insel des Mondes
Reisekleider und die Schuhe für sie nicht sichtbar waren. Sie legte sich mit hämmerndem Puls wieder hin und tat so, als würde sie tief schlafen.
Sie wusste trotzdem, dass es Morten war, der den Vorhang zurückzog. Sie erkannte seinen Geruch, ein Hauch von Kümmel, eine Prise Bergamotte und Holunder.
Paula spürte, wie beunruhigt er war. Sie schlug die Augen auf und versuchte verzweifelt so auszusehen, als hätte sie bis eben noch geträumt.
»Aufstehen, es geht los, Sie werden erwartet, meine Liebe.«
Meine Liebe . Paula dachte, sie müsste sich übergeben, aber sie tat so, als käme sie nur schwer zu sich.
»Oh, ich habe wohl gestern viel zu viel getrunken«, gähnte sie, spähte an Morten vorbei nach draußen und gab vor, völlig geblendet zu sein. »Ist es wirklich schon hell? Das muss an diesem Vorhang liegen, dahinter liegt man dunkel und still wie in einem Grab.«
»Es war das Bett von Ranavalona I.«, erklärte Noria todernst. »Hier empfing sie ihre Liebhaber, und mit diesem Vorhang wollte sie sichergehen, dass niemand sie dabei beobachten konnte. Wir müssen uns jetzt beeilen, die Sonne sollte nicht zu hoch stehen.«
Paula verspürte den dringenden Wunsch, aus diesem stickigen Raum herauszukommen, betupfte sich mit Kölnisch Wasser und verzichtete auf das Waschen.
Zügig folgte sie Noria, die sie zu einem Tor führte, von dem es gestern noch geheißen hatte, dass es nur für die siebzig Jungfrauen bestimmt sei, die der Königin das Wasser für das Neujahrsbad bringen.
Noria drehte sich zu ihr um. »Außer Laborde war noch nie ein Europäer hier, ich weiß nicht, wie Sie das erreicht haben. Aber Sie sind die erste weiße Frau, der die Königin das gestattet. Es gefällt mir, dass ausgerechnet Sie das sind.«
Der schmale Weg führte über eine Treppe und einen wei teren Hügel hinauf, an dem sich zwei ovale, in den Felsen gehauene Becken befanden, so groß, dass man darin Elefanten hätte baden können. Das Wasser schimmerte so hellgrün wie junge Birkenblätter in der Sonne. Sie gingen daran vorbei und weiter nach oben, noch eine Treppe und noch eine, dann nach links wieder hinab, und plötzlich standen sie auf einem nackten Felsen, der steil nach unten abfiel und einen atemberaubenden Blick über die Landschaft unter ihnen bot. Reisterrassen und weite Ebenen mit silbrig sich dahinschlängelnden Flüssen.
An der Nordostseite des Felsens stand ein dunkelhäutiger Mann, der einen bodenlangen roten und mit Goldborten reich verzierten Mantel trug und der Königin verblüffend ähnlich sah. Er schien die beiden höchst ungeduldig zu erwarten und rief Noria schon von Weitem antreibende Worte zu.
»Das ist der Bruder der Königin, ein Kelimalaza, ein Hüter der Totems. Ranavalona hat ihn gerufen, obwohl er nicht wirklich ein Dadarabee ist. Sie versucht ihn zu besänftigen, denn sie hat allen Kelimalaza ihre Privilegien entzogen, wegen des Herrn Jesus dürfen sie keine Beschwörungen mehr mit ihren Totems machen.«
Verwirrt betrachtete Paula den jungen Mann, der sie ernst musterte. Sie war völlig durcheinander von dem, was sie vorhin belauscht hatte, und von dem, was Noria eben erzählt hatte.
Der Mann wandte sich an Noria, die dann für sie übersetzte. Zuerst wollte er den Namen der Ahnin wissen, mit der sie sprechen wollte. Er wiederholte den Namen Mathilde so lange, bis Paula ihn nicht mehr verbessern musste. Dann wollte er wissen, ob sie etwas von ihrer Großmutter mit sich führte. Von Mathilde besaß Paula nichts, nur das Buch und ihre Besitzurkunde, aber die waren in ihrer Leder tasche verstaut, die sie in ihrem Bett zurückgelassen hatte.
Vielleicht zählte auch die Phiole, die sie an dem Lederband trug. In diesem Fläschchen hatte sie versucht, den Duft der blauen Flakons einzufangen, und der war ja von ihrer Großmutter. Sie zögerte einen Moment, dann holte sie die Phiole hervor und gab sie dem Ahnenpriester.
Der Kelimalaza nahm das Fläschchen und stellte es gefährlich nah an den Abgrund. Dort befand sich, wie Paula nun bemerkte, auch schon eine Flasche Rum, ein Stück Kokosnusskuchen und ein Haufen weißes Fett. Noria beglückwünschte sie und erklärte ihr, dass es sich bei dem Fett um den Fettbuckel des heiligen Zebus handelte, der für das Neujahrsfest geschlachtet worden und deshalb kostbar wie Gold war. In einer Schale neben dem Fett brannte eine Kerze und ein stark duftendes Stückchen Weihrauch. Der Mann hielt das Fett in die Flamme der Kerze, wo es zischend schmolz, dann
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