Die Insel des Mondes
ihre Großmutter gelebt hatte, war es vielleicht möglich, sich mit Englisch oder Französisch durchzuschlagen, aber auf dem Lande war das undenkbar. Sie kippte noch einen ganzen Becher Tee in sich hinein und seufzte. Unmöglich, wiederholte ihre innere Stimme, unmöglich, wisperte sie und klang geradezu beglückt darüber, dass es ihr gelungen war, Paulas glückliche Gefühle von vorhin endgültig auszulöschen.
»Noria, ich habe kein Geld mehr«, brach es dann nach zwei weiteren Bechern Tee und sechs frittierten Häppchen aus ihr heraus. »Wollen Sie trotzdem weiter mit mir reisen oder nicht?«
Noria zog überrascht die Augenbrauen hoch und betrachtete sie ungläubig. »Nach allem, was ich weiß, besitzen Sie doch viele Dinge.«
»In meinen Truhen ist leider nichts, was sich zu Geld machen ließe.« Paula kam es mittlerweile höchst lächerlich vor, dass sie zwar alles dabeihatte, um Parfüm herzustellen, aber nichts, was sich zu Geld machen ließe. Und für Parfüm interessierte sich in diesem Land, wo es an jeder Ecke nach den süßesten Blumen duftete, auch niemand.
»Da wären Ihre Kleider!« Noria klang sehnsüchtig und brachte Paula zum Nachdenken. Ihre Kleider bedeuteten ihr nicht das Geringste.
»Würden Sie mitkommen, wenn ich Ihnen das Kleid gebe, das ich gestern beim Essen mit der Königin getragen habe?« Paula überschlug im Geiste, was das Kleid gekostet hatte, fast achtzig Mark, weil es aus teurer, handbestickter Seide war, und dann berechnete sie, was sie Noria bis zum heutigen Tag gezahlt hatte. Etwa sieben Mark in Silbermünzen.
»Ist es von Ihrer Großmutter?«
»Nein.« Paula wunderte sich. Wie kam Noria denn auf so eine Idee? »Nein, es ist ganz neu.«
Noria kaute auf ihren Lippen herum. Lange, viel zu lange, fand Paula, die voller Spannung auf eine Antwort wartete.
»Wenn ich dazu noch ausreichend zu essen und zu trinken bekomme, dann denke ich darüber nach.«
Und in der Zwischenzeit findet sie heraus, wie viel sie bei den Männern herausschlagen kann, dachte Paula. Ich habe keine Zeit zu verschwenden. »Gut, dann ist unser Handel abgemacht. Das Kleid ist achtmal so viel wert wie das, was ich Ihnen bis heute bezahlt habe. Sie reisen mit mir weiter, erhalten Essen und Getränke, und am Ende der Reise übergebe ich Ihnen als Bezahlung das Kleid.«
Noria wirkte immer noch unentschlossen, verzweifelt schlug Paula deshalb vor: »Möchten Sie es vielleicht jetzt schon einmal anprobieren?«
Ungläubig lächelte Noria. »Tsara! Hier im Palast gibt es Spiegel, und ich könnte sehen, wie es mich kleidet.«
Während Noria sie zurück zu ihrem Zimmer führte, wurde Paula klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Das Kleid konnte Noria gar nicht passen, denn sie war kleiner und kräftiger als Paula. Noria war nicht dick, aber sie hatte starke Muskeln und breite Knochen.
Die Männer waren glücklicherweise nicht im Zimmer. Paula holte das Kleid aus ihrer Truhe und wollte Noria dann beim Anlegen helfen. Bestürzt entdeckte sie, dass Noria keine Unterkleider trug und vollkommen nackt in das Kleid schlüpfte. Wie Paula befürchtet hatte, war es unmöglich, die Häkchen im Rücken zu schließen, und die eigentliche Schleppe wurde noch einmal um zwanzig Zentimeter verlängert, weil Noria so viel kleiner war als Paula.
Trotzdem sah Noria geradezu andächtig auf das Kleid herunter und konnte es kaum erwarten, sich im Speisesaal in dem großen Spiegel, dem Geschenk der Queen Victoria, zu betrachten. Paula erbot sich, die Schleppe zu tragen, weil sie Noria so wenigstens von der Taille abwärts bedeckt hielt. Sie überquerten den Hof und erreichten den Speisesaal.
Noria stieß ein entzücktes »Tsara« aus, als sie sich im Spiegel sah, schob ihren Busen unter dem Kleid in die richtige Position, wiegte sich in den Hüften, schwenkte den Rock hin und her, machte ein paar Tanzschritte und nickte sich begeistert zu. Paula begann sich zu schämen, denn Noria sah in ihren Augen höchst lächerlich aus. Trotzdem würde sie tunlichst den Mund halten, denn sie brauchte Norias Hilfe. Diese Reise macht mich zu einem Monster, dachte sie, ich bin offensichtlich bereit, jeden Preis für meine Ziele zu zahlen.
Noria wandte sich vom Spiegel ab und drehte sich zu Paula hin, sodass Paula ihre nackte Rückansicht im Spiegel anschauen musste, und sie war sehr froh, das Noria sich nicht von hinten betrachten konnte, denn es wirkte so, als wäre der helle Stoff von dem dunklen Körper aufgerissen worden.
In diesem
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