Die Insel des Mondes
das für eine heikle Frage war. Nein, sie hatte nie manden, weshalb sie umso dringender herausfinden wollte, was mit ihrer Großmutter passiert war.
Der Premier musterte sie mitleidig und zog die richtigen Schlüsse aus ihrem Schweigen. »Keine Familie. Das ist wie ein Baum ohne Wurzel, wie ein Kopf ohne Beine, wie ein Fisch ohne Wasser. Warum Vanille?«
»Weil es das war, was meine Großmutter gemacht hat, ich möchte tun, was sie getan hat.«
Der Premier trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Schreibtisch herum, als würde ihn etwas sehr beschäftigen. Irgendetwas daran störte Paula, aber sie wusste erst nach einer Schrecksekunde, was es war. Die amputierten Fingerglieder, von denen Noria erzählt hatte. Beim Abendessen war es viel zu dunkel gewesen, um sie zu bemerken. Paula konzentrierte sich sofort darauf, woanders hinzusehen, um den Premierminister nicht zu verärgern.
Endlich rief er nach dem Soldaten, der vor der Tür postiert war, und ratterte ein paar Befehle herunter, die den Soldaten zackig abmarschieren ließen, dann rief er nach einem seiner Minister, der aber nicht erschien, und so stand er schließlich auf und bat sie, ihn zu entschuldigen.
Paula blieb sitzen und wartete und wartete und wartete. Mora-Mora. Ihr Blick fiel auf die Uhr auf dem Schreibtisch, die stehen geblieben war. Diese Uhr kam ihr wie ein Sinnbild für ihr Leben vor. In ihr war auch etwas stehen geblieben, kaputtgegangen, und sie hatte Angst, dass es für immer so bleiben könnte.
Paula dachte an ihre Großmutter, die viel Geld für dieses Stück Land bezahlt hatte, und sie fragte sich, was sie davon halten würde, dass ihr Eigentum nun dem Staat gehörte. Oder hatte dieser Laborde ihre Großmutter absichtlich reingelegt? War es wirklich die ganze Mühe wert weiterzureisen, nur um dann ein Stück Land zu pachten? Sollte sie nicht lieber aufgeben und nach Hause fahren? Nach Hause … dieser Gedanke wirkte wie ein kalter Guss. Sie hatte kein Zuhause mehr, sie musste sich erst eines schaffen. Sie stand auf, um aus dem Fenster zu schauen, was den Soldaten, der das Zimmer bewachte, in Bewegung versetzte.
Die Sonne legte schon einen kupfernen Schimmer über die Ebenen. Westen, Osten, Norden oder Süden, sie wusste nicht, wohin die Reise sie führen würde, und von hier oben sah alles einladend aus, wie eine Verheißung.
Der Soldat räusperte sich so demonstrativ, dass sie sich wieder zum Schreibtisch umwandte, an dem der Premierminister gerade Platz genommen hatte. Die Sonne stand so tief, dass sie ihm voll ins Gesicht schien und die goldenen Knöpfe seiner Schoßjacke zum Glühen brachte.
Er wartete, bis sie wieder saß, wischte sich über die Stirn und erklärte ihr dann, dass sich das Grundstück direkt am Meer in der Nähe von Antalaha im Nordosten befinden würde. Er händigte ihr einen ganzen Berg versiegelter Unterlagen aus, die er für den dortigen Chef, dem Sakàizam-bohitra, aufgesetzt hatte. Er beglückwünschte sie, das Inter esse der Königin erregt zu haben, und erklärte, dass man sich schon außerordentlich auf die erste Lieferung ihrer Vanille freue.
Und damit war sie entlassen.
Sie ging zurück in das Zimmer und zündete eine Kerze an, weil es mittlerweile stockdunkel war. Dann versteckte sie die Dokumente in Mathildes Buch und verstaute es wieder in ihrer Ledertasche, die sie zusammen mit der Wasserflasche fast immer am Körper trug.
Gerade als sie damit fertig war, öffnete sich die Tür, und Lázló kam herein. Gleich hinter ihm betrat Noria das Zimmer. Die beiden waren zwar überrascht, sie zu sehen, aber es schien sie nicht weiter zu stören. Noria zwinkerte ihr zu, Lázló grinste verschlagen, und es war nur allzu deutlich, was die beiden vorhatten. Paula war sicher, dass es keinen von beiden stören würde, wenn sie dabei zusah.
In diesem Moment verabscheute Paula sie alle beide. Sie erschienen ihr viel freier, als sie es jemals sein würde. Für sie war es ja schon unmöglich, ihre Reisegefährten zu bitten, auf sie zu warten, weil sie sich erleichtern musste, geschweige denn, dass sie offen mit einem Mann herumtän deln würde. Da hatte ihre strikte Erziehung sie fest im Griff. Aber es war nicht nur das, sie brauchte Noria und konnte es sich nicht leisten, sie an Lázló zu verlieren. Und das war ihr am allermeisten zuwider, sich eingestehen zu müssen, dass sie überhaupt jemanden brauchte.
Wütend verließ sie das Zimmer, nicht ohne noch Norias Kichern zu hören. Sie stürmte durch das Tor und
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