Die Insel des Mondes
dann die Treppen des Palasts hinunter zu dem großen Vorplatz, wo sie sich an den mächtigen Feigenbaum mit den zwölf Steinen im Stamm setzte. Als sie den Kopf hob, entdeckte sie den klaren Sternenhimmel über sich, und so sehr sie diesen Anblick auch sonst immer genoss, heute war er ihr gleichgültig. Sie war hierher gereist, um allem zu entfliehen, und nun wurde sie ständig an das erinnert, was sie vergessen wollte.
Sie griff nach der Phiole und schraubte den winzigen Verschluss auf, um sich durch den Duft zu beruhigen und wieder in das Gefühl von heute Morgen zurückzuversetzen.
Aber es legte sich keine schützende Decke um sie, im Gegenteil, der Geruch kam ihr schal vor, genauso schal wie der lächerliche Versuch, ihr Leben zu ändern.
Tränen der Enttäuschung stiegen in ihre Augen. Sie schraubte die Phiole wieder zu und schniefte.
»Darf ich Ihnen mein Taschentuch anbieten?« Das war Villeneuves Stimme – bezeichnend für ihr Pech, dass er jetzt auch noch aufkreuzte.
Sein Taschentuch leuchtete hell in der Nacht, Paula rang mit sich, dann dachte sie, warum nicht ordentlich reinschnäuzen, ich muss es ja nicht waschen. Sie nahm es, aber sie benutzte es doch nicht, sondern reichte es ihm zurück. Nein, sie wollte ihm nichts schuldig sein, nicht mal die Benutzung eines Taschentuchs.
Er steckte es schweigend in seine Hosentasche.
Sie nahm sich vor, auch zu schweigen. Sie würde nichts sagen, kein Gespräch anfangen, in all ihren Unterhaltungen hatte er das letzte Wort gehabt. Nein, heute würde sie ganz einfach stumm bleiben. Sich lieber die Zunge abbeißen. Kein Wort.
»Ich hätte nicht gedacht«, sprudelte es im nächsten Moment höchst konsequent aus ihr heraus, »dass Sie ein Mann sind, der Taschentücher benutzt.«
»Es hat Sie bestimmt auch verwundert, dass ich mit Messer und Gabel esse und Seife verwende.«
Gegen ihren Willen verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln.
Doch dann erinnerte sie sich daran, worüber die drei geredet hatten, und ihr Lächeln erstarb.
Er räusperte sich und deutete in den Nachthimmel. »Es gibt Volksstämme auf der Welt, die glauben, dass die Sterne die Seelen der toten Kinder sind.«
Paula wollte sich schon empört zum Gehen erheben, als ihr klar wurde, dass er sie dieses Mal nicht absichtlich hatte kränken wollen. Er konnte unmöglich wissen, was seine Worte in ihr auslösten. Dann erinnerte sie sich blitzartig daran, wie er in der kleinen Kapelle eine Kerze angezündet hatte.
»Davon abgesehen, dass es dummer abergläubischer Hum bug ist, ist es auch kein besonders schöner Gedanke.« Er setzte sich ungebeten neben Paula, der sofort sein würziger Geruch in die Nase stieg.
»Warum denn nicht?«, fragte sie nach und legte den Kopf zurück, um die Sterne besser betrachten zu können. Die Seelen der toten Kinder.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort, Paula dachte schon, er hätte ihre Frage gar nicht gehört. Schließlich senkte sie ihren Kopf und sah zu ihm hinüber. Er starrte wie hypnotisiert in den blinkenden Nachthimmel.
»Es sind so viele«, flüsterte er, »so schrecklich viele.« Seine Stimme brach ab, er stand abrupt wieder auf und verließ sie.
Sie unterdrückte den Impuls, ihm zu folgen, und blieb sitzen. Er hat recht, dachte sie, es sind so viele.
Doch für Paula war dieser Gedanke tröstlich, so als ob man eine Last von ihr genommen hätte. Was ihr geschehen war, hatten schon viele durchleben müssen, sie war nicht die Einzige, die ein totes Kind im Arm gehalten hatte.
12
Mathildes Brief
Ambalava, am Abend des 9. August 1 8 5 6
Meine liebe Florence,
jetzt habe ich die unglaublich reiche Ernte von diesem Jahr wieder eingewickelt, und der Regen kann kommen. Meine Hände sind schwarz und duften nach Vanille. Und das ist der einzige Geruch, der mich pur und ohne Zugaben glücklich macht, denn es war die Vanille, die mein Leben verändert hat. Doch ich fürchte, es ist für Dich, meine geliebte Tochter, der pure Hohn, wenn ich Dir dies schreibe, denn sollte eine Mutter sich nicht allein durch ihre Kinder erfüllt fühlen?
Nun, ich bin sicher, wenn Du Kinder bekommen hast, dann wirst Du ihnen eine bessere Mutter sein, als ich es jemals war.
Weder die Schwangerschaft noch das Zusammensein mit einem Kind hat mir je viel gegeben, was mir aufrichtig leidtut, aber geliebt habe ich Dich immer von ganzem Herzen. Es ist eben nur so, dass das Zusammensein mit einem Kind nicht zwingend eine gute Mutter aus Dir macht, und Dich unter den Piraten
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