Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
fragte Roberto, und die bange Unruhe, mit der er es fragte, kommt uns übertrieben vor. Als hätte ihm die Insel schon seit einiger Zeit ein dunkles Emblem versprochen, das nun auf einmal hell aufleuchtete.
Pater Caspar erklärte, dass es sehr schwierig sei, die Schönheit dieser Taube zu beschreiben, man müsse sie sehen, um von ihr sprechen zu können. Er habe sie mit dem Fernrohr am Tag ihrer Ankunft entdeckt. Und von weitem sei es gewesen, wie wenn man eine feurige Kugel aus Gold sehe, oder aus güldenem Feuer, die vom Wipfel der höchsten Bäume zum Himmel auffliege wie ein Pfeil. Sobald er an Land gegangen sei, habe er mehr darüber wissen wollen und habe den Matrosen gesagt, sie sollten die Taube suchen.
Es sei eine ziemlich lange Suche gewesen, bis sie begriffen hätten, in welchen Bäumen die Taube lebte. Sie habe einen ganz besonderen Laut von sich gegeben, eine Art »Klock klock«, wie man es erhält, wenn man die Zunge gegen den Gaumen schnalzen lasse. Er habe herausgefunden, dass sie antworte, wenn man diesen Schnalzlaut mit dem Mund odermit den Fingern mache, und manchmal sei sie zu sehen gewesen, wie sie von Ast zu Ast flog.
Er sei dann noch mehrmals zurückgekehrt und habe sich auf die Lauer gelegt, diesmal mit einem Fernrohr, und zumindest einmal habe er die Taube gut sehen können, wie sie fast reglos dasaß: der Kopf ein dunkles Olivgrün – oder nein, eher Spargelgrün, wie die Füße – und der Schnabel ein Hellgrün, das sich nach hinten fortsetzte, um sich gleich einer Maske ums Auge zu legen, das wie ein Maiskorn ausgesehen habe, mit der Pupille in einem glänzenden Schwarz. An der Kehle ein Streifen Gold, ebenso wie an den Spitzen der Flügel, aber der ganze Rumpf, von der Brust bis zu den Schwanzfedern, deren feiner Flaum dem Haar einer Frau gliche, sei – wie solle er sagen? – nein, einfach rot sei nicht das richtige Wort ...
Purpurrot, rubinrot, rosenrot, blutrot, lippenrot, lachsrot, krebsrot, ziegelrot, schlug Roberto vor. Nein, nein, rief der Pater ärgerlich. Und Roberto: erdbeerrot, himbeerrot, kirschrot, geranienrot, radieschenrot, tomatenrot, vogelbeerenrot, stechpalmenbeerenrot, rotkehlchenkehlenrot, rotdrosselbauchrot, gartenrotschwanzschwanzrot ... Nein, nein, insistierte Pater Caspar, im Kampf mit seiner und allen Sprachen, um das passende Wort zu finden. Und anscheinend handelte es sich – nach der Synthese zu urteilen, die Roberto schließlich gibt, wobei man nicht recht begreift, ob die Emphase die des Informanten oder des Informierten ist – um die prangende Farbe einer Pomeranze, einer Apfelsine oder Orange, um ein Glut- oder eben ein Flammenrot, ja, es handle sich um eine geflügelte Sonne: Wenn man sie am weißen Himmel sah, war's, als würfe die Morgenröte einen Granatapfel in den Schnee. Und wenn sie sich in die Sonne katapultierte, war sie gleißender als die Cherubim!
Diese orange- oder flammenfarbene Taube, sagte Pater Caspar, konnte gewisslich nur auf der Insula Salomonis leben, denn im Canticum jenes großen Königs sei die Rede von einer Taube, die sich wie die Morgenröte erhebe, glänzend wie die Sonne, terribilis ut castrorum acies ordinata – schrecklich wie eine waffenstarrende Heerschar. Und in einem anderen Psalm heiße es, ihre Flügel seien bedeckt mit Silber und die Federn mit dem Schimmer des Goldes.
Zugleich mit diesem Vogel hatte Pater Caspar noch einen anderen gesehen, der ganz ähnlich aussah, nur dass bei ihm die Federn nicht flammenrot, sondern grünblau waren, und aus der Art, wie die beiden nebeneinander auf demselben Zweig hockten, war zu schließen, dass sie Männchen und Weibchen waren. Dass sie Tauben sein mussten, war aus ihrer Gestalt und ihrem häufigen Gurren zu schließen. Welche der beiden das Männchen und welche das Weibchen war, ließ sich schwer sagen, und im übrigen hatte Pater Caspar den Matrosen gesagt, sie sollten sie nicht töten.
Roberto fragte, wie viele solcher Tauben es auf der Insel geben mochte. Soweit Pater Caspar wusste, der jedes Mal nur eine einzige flammenfarbene Kugel zum Himmel hatte emporschießen sehen oder immer nur ein Pärchen zwischen den hohen Blättern, konnte es durchaus sein, dass es auf der Insel nur zwei solcher Tauben gab und dass nur eine davon flammenfarben war. Die Vorstellung machte Roberto rasend vor Verlangen nach jener einmaligen Schönheit – die, wenn sie auf ihn wartete, immer schon seit dem vorigen Tag auf ihn wartete.
Im übrigen, wenn er bereit sei, stundenlang mit
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