Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
Ohr, der andere an der Nase, und jeder fordert mich auf: ›Schreibt mich, Monsieur, ich bin wunderschön.‹ Dann fällt mir ein, dass man eine ebenso schöne Geschichte erzählen kann, indem man ein originelles Duell erfindet, zum Beispiel eines, bei dem man den Gegner während des Kampfes dazu überredet, Gott zu verleugnen, um ihm dann die Klinge ins Herz zu stechen, so dass er als Verdammter stirbt. Halt, Monsieur de La Grive, nochmals heraus Euren Degen, so, pariert den da! Ihr habt die Füße in eine Linie gestellt, das ist nicht gut, man verliert dabei leicht den sicheren Stand. Den Kopf nicht geradehalten, der lange Hals bietet dem Gegner zu viel Angriffsfläche ...«
    »Aber ich decke den Kopf mit dem Degen in der gestreckten Hand.«
    »Falsch, in dieser Stellung verliert man zu viel an Kraft. Und außerdem, ich habe mit einer Guardia in deutscher Manier eröffnet, und Ihr habt Euch nach italienischer Art in Guardia begeben. Schlecht. Wenn eine Guardia zu bekämpfen ist, muss man sie immer möglichst genau kopieren ... Aber Ihr habt mir noch gar nichts von Euch erzählt und was Ihr gemacht habt, bevor Ihr in dieses Tal des Staubes geraten seid.«
    Es gibt nichts Faszinierenderes für einen jungen Menschen als einen Älteren, der mit perversen Paradoxen zu brillieren versteht, so dass man es ihm sofort nachtun möchte. Roberto öffnete Saint-Savin sein Herz, und um sich interessant zu machen, erzählte er ihm – da seine ersten sechzehn Lebensjahre nicht viel Konkretes hergaben – von seiner Obsession mit dem unbekannten Bruder.
    »Ihr habt zu viele Romane gelesen«, sagte Saint-Savin, »und nun versucht ihr, einen zu leben; denn die Aufgabeeines Romans ist, auf unterhaltsame Art zu belehren, und was er lehrt, ist, die Tücken der Welt zu erkennen.«
    »Und was sollte mich der lehren, den Ihr dann wohl den Roman von Ferrante nennt?«
    »Ein Roman«, erklärte Saint-Savin, »muss als Grundlage immer ein Missverständnis haben, eine Verwechslung von Personen, Handlungen, Orten und Zeiten oder Umständen, und aus diesem grundlegenden Missverständnis müssen dann episodische Missverständnisse hervorgehen, zeitweilige Verwirrungen und Verwicklungen, Peripetien und schließlich ein unerwartetes und ergötzliches Wiedererkennen. Ich meine solche Missverständnisse und Verwechslungen wie den irrtümlich angenommenen Tod einer Person, oder wenn eine Person anstelle einer anderen umgebracht worden ist; oder Missverständnisse der Quantität, wie wenn eine Frau ihren Liebhaber für tot hält und einen anderen heiratet; oder solche der Qualität, wie wenn die Sinne sich täuschen oder wenn jemand begraben wird, der tot zu sein scheint, aber bloß unter dem Einfluss eines starken Schlafmittels steht; oder auch Missverständnisse der Beziehung, wie wenn einer zu Unrecht für den Mörder eines anderen gehalten wird; oder solche des Instruments, wie wenn man vorgibt, jemanden zu erdolchen, indem man einen speziellen Dolch benutzt, dessen Spitze beim Berühren der Haut nicht in diese eindringt, sondern in den Schaft zurückgleitet und darin einen blutgetränkten Schwamm zusammendrückt ... Nicht zu reden von falschen Wurfgeschossen, fingierten Stimmen, nicht rechtzeitig angekommenen Briefen oder solchen, die an einem falschen Ort einer falschen Person zugestellt worden sind. Und das beliebteste, aber auch gängigste dieser Stratageme ist jenes, das die Verwechslung einer Person mit einer anderen durch einen Doppelgänger erklärt. Der Doppelgänger ist ein Spiegelbild, das die betreffende Person ständig hinter sich herzieht oder das ihr bei jeder Gelegenheit vorauseilt. Ein schöner Kunstgriff, durch den der Leser sich in der Romanperson wiederfindet, da er mit ihr die dunkle Angst vor einem feindlichen Bruder teilt. Aber seht, wie auch der Mensch nur eine Maschine ist, bei der es genügt, ein Rädchen an der Oberfläche zu drehen, um andere Räder in ihrem Innern sich drehen zu lassen: Der Bruder und die Feindschaftsind nichts anderes als ein Reflex der Angst, die ein jeder vor sich selber hat, vor den Abgründen seiner eigenen Seele, in denen sich uneingestandene Wünsche verbergen oder, wie man in Paris zu sagen pflegt, dumpfe und unausgedrückte Begriffe. Denn es ist ja bewiesen worden, dass es unmerkliche Gedanken gibt, welche die Seele prägen, ohne dass sich die Seele dessen bewusst ist, heimliche Gedanken, deren Existenz dadurch bewiesen wird, dass ein jeder von uns, sobald er anfängt, sich selbst zu prüfen,

Weitere Kostenlose Bücher