Die Insel Des Vorigen Tages
Mund antwortete. Danach sei eine von ihnen zum Tempel des Ammon geflogen und die andere zu dem von Delphi, und so erkläre sich, warum sowohl die Ägypter wie auch die Griechen dieselben Wahrheiten erzählten, wenn auch verhüllt unter dunklen Schleiern. Ohne Taube keine Offenbarung.
Aber wir fragen uns noch heute, was der Goldene Zweig bedeuten sollte. Woran man sieht, daß die Tauben zwar Botschaften bringen, aber solche, die verschlüsselt sind.
Ich weiß nicht, wieviel Roberto von der indischen Kabbala wußte, die zu seiner Zeit sehr in Mode war, aber wenn er den Monsignor Gaffarel frequentierte, muß er davon gehört haben. Tatsache ist, daß die Juden auf der Taube ganze Schlösser erbauten. Wir haben daran erinnert, beziehungsweise Pater Caspar hat es getan: Im 68. Psalm ist die Rede von den Flügeln der Taube, die sich mit Silber beziehen, und von ihren Federn, die golden schimmern. Warum? Und warum taucht in den Sprüchen Salomonis ein ganz ähnliches Bild auf, nämlich »goldene Äpfel in einem ziselierten Netz aus Silber«, mit dem Kommentar »dies ist das passend gesprochene Wort«? Und warum heißt es im Hohenlied, an das Mädchen gewandt, dessen Augen »wie Taubenaugen« sind, »O meine Geliebte, wir wollen dir goldene Ohrringe machen mit silbernen Kugeln«?
Die jüdischen Kommentatoren sagten, das Gold sei das der Schrift und das Silber der weiße Zwischenraum zwischen den Buchstaben oder den Wörtern. Und einer von ihnen, den Roberto vielleicht nicht kannte, aber der noch viele Rabbiner inspirieren sollte, hat gesagt, die goldenen Äpfel in einem feinziselierten silbernen Netz bedeuteten, daß es in jedem Satz der Schriften (gewiß aber in jedem Gegenstand oder Ereignis der Welt) zwei Seiten gibt, eine offenkundige und eine verborgene; die offenkundige ist aus Silber, doch wertvoller, weil aus Gold, ist die verborgene. Und wer das Netz von weitem betrachtet, mit den Äpfeln in seinen silbernen Fäden, der glaubt zunächst, daß die Äpfel aus Silber seien, wenn er aber genauer hinsieht, entdeckt er den Glanz des Goldes.
Alles, was die Heiligen Schriften prima facie enthalten, schimmert wie Silber, doch ihr verborgener Sinn glänzt wie Gold. Die unverletzbare Keuschheit des Wortes Gottes, verborgen dem Blick der Profanen, ist wie bedeckt von einem Schleier der Schamhaftigkeit und liegt im Schatten des Mysteriums. Sie besagt, daß man die Perlen nicht vor die Säue werfen soll. Taubenaugen zu haben heißt, daß man nicht beim wörtlichen Sinn der Worte stehenbleibt, sondern in ihren mystischen Sinn einzudringen weiß.
Aber dieser Sinn entzieht sich immerfort, wie die Taube, und man weiß nie, wo man ihn zu fassen bekommt. Die Taube bedeutet, daß die Welt durch Hieroglyphen spricht, und somit ist sie selber die Hieroglyphe, welche die Hieroglyphen bedeutet. Und eine Hieroglyphe redet nicht und verbirgt nicht, sie zeigt nur.
Andere Juden hatten gesagt, daß die Welt ein Orakel sei, und es ist kein Zufall, daß die Taube im Hebräischen tore heißt, was an Torah gemahnt, also an ihre Bibel, das Heilige Buch, die Quelle jeglicher Offenbarung.
Wenn die Taube in die Sonne fliegt, scheint sie zunächst bloß wie Silber zu schimmern, und nur, wer lange genug zu warten vermag, um ihre verborgene Seite zu entdecken, wird ihr wahres Gold erblicken, das heißt die Farbe der lodernden Flamme.
Seit dem venerablen Isidor haben auch die Christen daran erinnert, daß die Taube, wenn sie bei ihrem Flug die Strahlen der Sonne reflektiert, uns in verschiedenen Farben erscheint. Sie bedarf der Sonne, und daher rühren Devisen wie Aus deinem Licht meine Pfeile oder Für dich schmucke ich mich und strahle . Ihr Hals umgibt sich im Licht mit verschiedenen Farben und bleibt doch immer derselbe.
Weshalb man gut daran tut, sich nicht nur an die Erscheinungen zu halten, sondern auch die wahre Erscheinung unter den falschen zu finden.
Wie viele Farben hat die Taube? In einem alten Bestiarium heißt es:
Uncor mestuet que vos devis
des columps, quisunt blans et bis,
li un ont color aierine,
et li autre lont stephanine:
li un sont neir, li autre rous,
li un vermel, l’autre cendrous,
et des columps i a plusors
qui ont trestotes les colors.
Und was wäre dann eine Flammenfarbene Taube?
Zu guter Letzt, immer angenommen, Roberto wußte etwas davon, finde ich im Talmud folgende Geschichte: Die Mächtigen von Edom dekretierten gegen Israel, daß sie einem jeden, der den Gebetsriemen trug, das Gehirn herausreißen
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