Die Insel Des Vorigen Tages
den Wellen gepeitscht wurde. Roberto starrte auf die Erscheinung und konnte den Blick nicht von ihr lösen, er verschmolz sie mit denen, die nach ihr kamen (als Pater Caspar langsam die Leiste verschob), und vermischte sie - Traum im Traum - alle miteinander, ohne noch zu unterscheiden, was ihm gesagt wurde und was er sah.
Der Klippe näherte sich ein Schiff, in dem er die Tweede Daphne erkannte. Sie legte an, und heraus stieg Ferrante, um den Verdammten loszubinden. Alles war klar: Ferrante war auf seiner Reise dem Judas begegnet, der - wie die Legende versichert - an eine Klippe im Meer gekettet ist, um für seinen Verrat zu büßen.
»Danke«, sagte Judas zu Ferrante - doch was Roberto vernahm, kam sicherlich von Pater Caspars Lippen. »Seit ich hierher’ verbracht worden bin, heute zur neunten Stunde, hoffte ich, meine Sünde noch wiedergutmachen zu können. Ich danke dir, Bruder ...«
»Bist du denn erst seit einem Tag hier oder noch kürzer?« fragte Ferrante. »Deine Sünde ist doch im dreiunddreißigsten Lebensjahr unseres HErrn begangen worden, also vor nunmehr eintausendsechshundertzehn Jahren ...«
»Ach, du einfältiger Mensch«, erwiderte Judas, »gewiß ist es eintausendsechshundertzehn eurer Jahre her, daß ich an diese Klippe gekettet ward, aber es ist noch nicht und wird niemals einen meiner Tage hersein. Du weißt es nicht, aber als es dich in dieses Meer verschlug, das diese meine Insel umgibt, bist du in ein anderes Universum gelangt, das neben und in dem euren verläuft, und hier umkreist die Sonne die Erde wie eine Schildkröte, die bei jedem Schritt langsamer wird. So hatte in dieser meiner Welt ein Tag zuerst zwei der euren gedauert, dann drei und dann immer mehr, bis jetzt, da ich nach tausendsechshundertzehn eurer Jahre immer noch in derselben neunten Stunde bin, und bald wird die Zeit noch langsamer vergehen und dann noch langsamer, und ich werde ewig in derselben neunten Stunde des dreiunddreißigsten Jahres seit der Nacht von Bethlehem leben ...«
»Und warum?« fragte Ferrante.
»Weil Gott wollte, daß meine Strafe darin bestehe, immerzu am Karfreitag zu leben, unentwegt die Passion jenes Mannes zu begehen, den ich verraten habe. Am ersten Tag meiner Strafe, als für die anderen Menschen der Abend kam und dann die Nacht und dann die Morgendämmerung des Karsamstags, war für mich nur ein Atom eines Atoms einer Minute seit der neunten Stunde jenes Karfreitags vergangen. Und da sich der Lauf der Sonne sogleich noch weiter verlangsamte, war bei euch Christus auferstanden, und ich war noch immer nur einen Augenblick von jener Stunde entfernt. Und jetzt, da für euch Jahrhunderte und Aberjahrhunderte vergangen sind, bin ich immer noch nur einen winzigen Krümel Zeit weitergekommen ...«
»Aber auch deine Sonne bewegt sich doch immerhin, und der Tag wird kommen, sei’s auch erst in zehntausend Jahren oder mehr, da auch du in deinen Samstag gelangen wirst.«
»Ja, und dann wird es noch schlimmer sein. Dann werde meinem Fegefeuer in meine Hölle gelangen.
Denn der Schmerz jenes Todes, den ich verursacht habe, wird nicht aufhören, aber ich werde die Möglichkeit nicht mehr haben, die mir jetzt noch geblieben ist, nämlich das Geschehene ungeschehen zu machen.«
»Wie das?«
»Du weißt nicht, daß unweit von hier der Antipoden-Meridian verläuft. Hinter jener Linie, sowohl in deinem Universum wie in meinem, ist der vorige Tag. Wenn ich, nachdem ich nun befreit bin, jene Linie überschreiten könnte, würde ich mich wieder an meinem Gründonnerstag befinden; und dieses Skapulier, das du auf meinen Schultern siehst, ist das Band, mit dem meine Sonne an mich gefesselt ist, um mir stets wie mein Schatten zu folgen und dafür zu sorgen, daß überall, wohin ich gehe, die Zeit so lang wie die meine dauert. Ich könnte also nach Jerusalem eilen, indem ich durch einen sehr langen Gründonnerstag zurückreisen würde, und dort eintreffen, bevor ich meine Untat begangen hatte. Und so könnte ich meinen HErrn vor seinem Schicksal bewahren.«
»Aber«, entgegnete Ferrante, »wenn du die Passion Christi verhindern würdest, hätte es niemals eine Erlösung gegeben, und die Welt wäre immer noch in der Erbsünde.«
»O weh!« rief Judas klagend aus. »Immer denke ich nur an mich! Aber was soll ich denn machen?
Wenn ich es dabei belasse, getan zu haben, was ich getan habe, bleibe ich ewig verdammt. Wenn ich meine Tat wiedergutmache, störe ich Gottes Heilsplan und werde dafür mit ewiger
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