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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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gewesen, nun eher Demonstrationsfiguren für einen Anatomiehörsaal waren oder sich gerade in solche verwandelten. So nämlich wollte Roberto sie haben, der sich entsann, eines Tages einen jener Orte besucht zu haben, wo schwarzgekleidete Ärzte mit roten Gesichtern und geplatzten Äderchen auf Nase und Wangen eine Leiche umstanden und sich an ihr zu schaffen machten, daß es aussah wie ein Gemetzel, um ihr Innerstes nach außen zu kehren und in den Toten die Geheimnisse der Lebenden zu entdecken. Sie lösten die Haut ab, schnitten ins Fleisch, legten die Knochen frei, trennten die Nervenstränge durch, entknoteten die Muskelknoten, öffneten die Sinnesorgane, breiteten die Membrane einzeln aus, entkoppelten die Knorpel und entkrösten alles Gekröse. Nachdem sie jede Faser unterschieden, jede Ader freigelegt, jedes noch so winzige Teilchen entdeckt hatten, zeigten sie den Umstehenden die Werkstätten des Lebens: Hier, sagten sie, wird die Speise verdaut, hier wird das Blut gereinigt, hier werden die Nährstoffe verteilt, hier bilden sich die Säfte, hier formen sich die Geister... Und jemand neben Roberto hatte leise bemerkt, nicht anders werde es nach unserem Tod auf Erden die Natur mit uns machen.
    Auf andere Weise hatte jedoch ein göttlicher Anatom die Bewohner jener Insel berührt, die Ferrante jetzt immer näher vor sich sah.
    Der erste war ein Körper ohne Haut, die Muskelbündel gespannt, die Arme in ergebener Haltung, das Gesicht leidend zum Himmel gekehrt, ganz Schädel und Wangenknochen. Beim zweiten hing die Haut der Hände gerade noch an den Fingerspitzen wie ein gewendeter Handschuh, und an den Beinen stülpte sie sich unter den Knien nach unten wie ein weicher Stulpenstiefel.
    Bei einem dritten waren zuerst die Haut und dann die Muskeln so weit auseinandergelappt worden, daß der ganze Körper und besonders das Gesicht wie ein aufgeklapptes Buch erschien. Als wollte jener Körper seine Haut, sein Fleisch und seine Knochen alle gleichzeitig zeigen, dreimal menschlich und dreimal sterblich; doch er wirkte wie ein Insekt, bei dem jene Lappen die Flügelwesen wären, hätte es auf jener Insel einen Wind gegeben, der sie hätte bewegen können. Doch diese Flügel wurden nicht von der Luft bewegt, die in jener Dämmerung völlig regungslos war, sondern wehten nur leise mit den Bewegungen jenes matten Körpers.
    Unweit von ihm stützte sich ein Gerippe auf einen Spaten, vielleicht um sich ein Grab zu graben, die Augenhöhlen zum Himmel gekehrt, eine Grimasse im abwärts gebogenen Halbrund der Zähne, die linke Hand ausgestreckt, wie um Mitleid und Gehör zu erflehen. Ein anderes, vorgebeugtes Gerippe zeigte den Rücken mit der gekrümmten Wirbelsäule, während es ruckweise vorwärtsstapfte, die knochigen Hände vor dem gesenkten Gesicht.
    Einer, den Ferrante nur von hinten sah, hatte noch eine dichte Mähne auf dem fleischlosen Schädel, die aussah wie eine fest aufgedrückte Pelzmütze. Doch die Kehrseite - blaßrosa wie eine Meermuschel -, der Filz, der den Pelz dieser Mütze trug, bestand aus der Haut, die am Hinterkopf abgetrennt und nach oben gestülpt war.
    Es gab andere, denen beinahe alles genommen war, so daß sie aussahen wie Figuren aus bloßen Nervensträngen; auf dem kopflosen Halsstumpf wedelten Gräsern gleich jene Stränge, die einst zum Gehirn geführt hatten, und die Beine schienen wie aus Weiden geflochten.
    Wieder andere ließen aus offenem Unterleib violettes Gedärm herausquellen wie betrübte Vielfraße, die den Bauch voll schlechtverdauter Kutteln haben. Wo sie einst einen Penis gehabt hatten, der nun wie geschält und zu einem winzigen Apfelstielchen geschrumpft war, baumelten nur noch verschrumpelte Hoden.
    Ferrante sah einige, die bloß noch aus Venen und Arterien bestanden, wandelnde Laboratorien eines Alchimisten, Kanülen und Röhrchen in permanenter Bewegung, um das blutlose Blut jener im Licht einer abwesenden Sonne erloschenen Leuchtkäfer zu destillieren.
    All diese Körper wahrten ein großes schmerzliches Schweigen. Bei einigen sah man die Zeichen einer sehr langsamen Transformation, die sie von Statuen aus Fleisch zu solchen aus Fasern verdünnte.
    Der letzte von ihnen, ein Gehäuteter wie Sankt Bartholomäus, hielt die noch blutige Haut in der erhobenen rechten Hand, von der sie schlaff herabhing wie ein abgelegter Schulterumhang. Man erkannte darauf noch ein Gesicht mit den Löchern der Augen und der Nase und der Höhle des Mundes, das aussah wie der letzte Rest einer

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