Die Insel Des Vorigen Tages
Wasserkaraffe, ließ einen Tropfen auf den ausgestrichenen Absatz fallen, so daß eine kleine Pfütze entstand, die sich durch die im Wasser aufweichende Tinte langsam schwarz färbte. »Und nun schreibt: Verzeiht, Signora, wenn ich nicht den Mut hatte, einen Gedanken stehenzulassen, der mich durch seine Kühnheit dermaßen erschreckte, daß er mir eine Träne entlockt hat. So kann ein vulkanisches Feuer ein überaus süßes Bächlein aus salzigem Wasser erzeugen. Jedoch, o Signora, mein Herz ist wie jene Muschel des Meeres, die den edlen Schweiß der Morgendämmerung trinkend eine Perle erzeugt und mit ihr heranwächst. Bei dem Gedanken, daß Eure Gleichgültigkeit meinem Herzen die Perle wegnehmen will, die es so eifersüchtig genährt hat, quillt mir das Herz aus den Augen ... Jawohl, La Grive, so ist es zweifellos besser, so haben wir die Exzesse verringert. Besser, man schließt, indem man die Einphase des Liebenden etwas dämpft, um die Rührung der Geliebten ins Riesenhafte zu steigern. Unterschreibt, siegelt und laßt es ihr bringen.
Dann wartet.«
»Worauf denn?«
»Der Norden auf dem Kompaß der Klugheit besteht darin, die Segel im Wind des Günstigsten Augenblickes zu setzen. Bei diesen Dingen kann Warten nie schaden. Anwesenheit vermindert das Ansehen, und Fernsein vergrößert es. Solange Ihr in der Ferne seid, wird man Euch für einen Löwen halten, und wenn ihr anwesend seid, könntet Ihr leicht die Maus werden, die der berühmte kreisende Berg gebiert. Gewiß seid Ihr reich an vorzüglichen Eigenschaften, aber auch die vorzüglichsten Eigenschaften verlieren an Glanz, wenn sie zu oft berührt werden, während die Phantasie in weitere Fernen reicht als der Blick.«
Roberto bedankte sich bei Saint-Savin und eilte nach Hause, den Brief im Wams verborgen, als hätte er ihn gestohlen. Als hätte er Angst, daß ihm jemand die Frucht seines Diebstahls rauben könnte.
Ich werde sie finden, sagte er sich, ich werde mich verbeugen und ihr den Brief überreichen. Dann wälzte er sich im Bett hin und her bei dem Gedanken, wie sie ihn mit den Lippen lesen würde. Er stellte sich Anna Maria Francesca Novarese inzwischen mit all jenen Tugenden ausgestattet vor, die Saint-Savin ihr zugeschrieben hatte. Indem er ihr seine Liebe erklärte, sei’s auch mit der Stimme eines anderen, hatte er sich noch verliebter gefühlt. Was er widerwillig begonnen hatte, erfüllte ihn nun mit Seligkeit. Er liebte das Mädchen jetzt mit der gleichen exquisiten Heftigkeit, die der Brief zum Ausdruck brachte.
Auf der Suche nach jener, der fernzubleiben er so geneigt war, ungeachtet der Kanonenschüsse, die ab und zu auf die Stadt niedergingen, entdeckte er sie ein paar Tage später an einer Straßenecke, beladen mit Ähren wie eine mythische Gestalt. Mit großem innerem Aufruhr stürzte er ihr entgegen, ohne recht zu wissen, was er tun oder sagen würde.
Zitternd bei ihr angelangt, trat er vor sie hin und sagte: »Gnädiges Fräulein ...«
»Meint’s mi?« antwortete sie auflachend, und: »Ja bitt’ schön?«
»Bitte schön«, wußte er nur zu sagen, »könntet Ihr mir vielleicht den Weg zeigen, auf dem man zum Kastell gelangt?« Darauf das Mädchen, mit dem Kopf und der großen Haarmasse nach hinten deutend:
»Na da lang, oder?«
Und während Roberto noch zögerte, ob er ihr nachgehen sollte, schlug pfeifend genau an der Ecke, hinter der sie verschwunden war, eine Kugel ein, die ein Gartenmäuerchen niederlegte und eine Staubwolke aufwirbelte. Roberto hustete, wartete, bis der Staub sich verzogen hatte, und begriff, daß er, da er allzu zögernd durch die weiten Räume der Zeit gegangen war, den Mittelpunkt der Gelegenheit verpaßt hatte.
Um sich zu bestrafen, zerriß er den Brief mit Bedauern und machte sich auf den Heimweg, während die Fetzen seines Herzens sich auf dem Boden knüllten.
Seine erste undeutliche Liebe hatte ihn für immer davon überzeugt, daß das Objekt der Liebe seinen Platz in der Ferne hat, und ich glaube, das hat sein weiteres Schicksal als Liebender bestimmt. In den folgenden Tagen war er an jede Ecke und in jeden Winkel zurückgekehrt, überallhin, wo er eine Auskunft bekommen, eine Spur erraten, etwas über sie gehört oder sie gesehen hatte, um sich eine Landschaft der Erinnerung zusammenzusetzen. So hatte er sich ein Casale seiner Leidenschaft gezeichnet, hatte Gassen, Brunnen, Plätze in den Fluß der Neigung, den See der Gleichgültigkeit oder das Meer der Feindschaft verwandelt; und hatte
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