Die Insel Des Vorigen Tages
Fluten tauchen, die Finger in jenen Nacken pressen, die Lippen in jene Furchen drücken und selbst jene Herden von Myrmidonen vernichten, die sie verunreinigten.
Doch er mußte sich von dem Zauber lösen, da ein lärmendes Gesindel durch die Straße zog, und es war das letzte Mal, daß ihm jenes Fenster liebreizende Anblicke bot.
An anderen Nachmittagen und Abenden sah er zwar erneut die Matrone, auch ein anderes Mädchen, nicht aber sie. Woraus er schloß, daß sie dort nicht wohnte, sondern nur manchmal zu Besuch kam, vielleicht zu Verwandten, um irgendeine Arbeit zu verrichten. Wo sie sein mochte, erfuhr er viele Tage lang nicht.
Da aber die Liebessehnsucht ein Rauschtrank ist, der an Stärke zunimmt, wenn er in die Ohren eines Freundes geträufelt wird, konnte Roberto, während er vergebens durch Casale lief und immer mehr abmagerte, seinen Zustand nicht vor Saint-Savin verheimlichen. Ja, er enthüllte ihn ihm aus Eitelkeit, denn jeder Liebende schmückt sich mit der Schönheit der Geliebten - und ihrer Schönheit ist er sich zweifelsfrei gewiß.
»Nun gut, Ihr liebt«, reagierte Saint-Savin leichthin. »Das kommt vor. Es scheint, daß die Menschen sich daran ergötzen, im Unterschied zu den Tieren.«
»Lieben denn die Tiere nicht?«
»Nein, die einfachen Maschinen lieben nicht. Was tun die Räder eines Wagens an einem Hang? Sie rollen nach unten. Die Maschine ist ein Gewicht, und das Gewicht strebt abwärts, getrieben nur von der blinden Notwendigkeit, die es nach unten drängt. So auch das Tier, es strebt zum Beischlaf und gibt keine Ruhe, bis es ihn hat.«
»Aber habt Ihr nicht neulich gesagt, daß auch die Menschen Maschinen sind?«
»Ja, aber die menschliche Maschine ist komplexen als die mineralische und die tierische, sie hat Gefallen an einer Pendelbewegung.«
»Wie meint Ihr das?«
»Nun, Ihr liebt, das heißt, Ihr begehrt und begehrt zugleich nicht. Die Liebe macht feindlich gegen sich selbst. Ihr fürchtet, wenn Ihr das Ziel erreicht habt, seid Ihr enttäuscht. Ihr ergötzt Euch in limine , auf der Schwelle, wie die Theologen sagen, Ihr genießt die Verzögerung.«
»Das ist nicht wahr, ich ... ich will sie sofort!«
»Wenn es so wäre, wäret Ihr immer noch bloß ein Bauer. Doch Ihr habt Geist. Wenn Ihr sie wolltet, hättet Ihr sie Euch schon genommen - und wäret ein Rohling. Nein, Ihr wollt, daß Euer Verlangen sich entzünde und daß sich auch ihr Verlangen entzünde. Würde sich aber das ihre so rasch entzünden, daß sie Euch sofort nachgäbe, so würdet Ihr sie wahrscheinlich nicht mehr wollen. Liebe gedeiht im Warten.
Das Warten geht durch die weiten Räume der Zeit zum Mittelpunkt der Gelegenheit.«
»Aber was mache ich inzwischen?«
»Macht ihr den Hof«
»Aber... sie weiß noch nichts, und ich muß Euch gestehen, ich habe Schwierigkeiten, mich ihr zu nähern
...«
»Schreibt ihr einen Brief und erklärt ihr Eure Liebe.«
»Aber ich habe noch nie einen Liebesbrief geschrieben! ja, ich schäme mich, es zu sagen, aber ich habe überhaupt noch nie einen Brief geschrieben.«
»Wenn die Natur uns im Stich läßt, wenden wir uns an die Kunst. Ich werde ihn Euch diktieren. Ein Edelmann ergötzt sich häufig damit, Briefe an Damen aufzusetzen, die er noch nie gesehen hat, und ich bilde da keine Ausnahme. Als Nichtliebender kann ich besser über die Liebe sprechen als Ihr, den die Liebe stumm macht.«
»Aber ich glaube, jeder Mensch liebt anders ... Es wäre ein künstlicher Brief«
»Würdet Ihr Eure Liebe im Ton der Aufrichtigkeit erklären, Ihr stündet da wie ein Tölpel.«
»Aber ich würde die Wahrheit sagen ...«
»Die Wahrheit ist eine ebenso schöne wie schamhafte Jungfer, und darum geht sie immer in ihren Mantel gehüllt.«
»Aber ich will ihr meine Liebe erklären, nicht die, die Ihr beschreiben würdet!«
»Und um sie glaubhaft zu machen, müßt Ihr sie formen. Es gibt keine Vollkommenheit ohne den Schliff durch die Kunst.«
»Aber sie wird merken, daß der Brief nicht an sie gerichtet ist.«
»Keine Angst. Sie wird glauben, was ich Euch diktiere, sei genau für sie geschrieben. Los, setzt Euch hin und schreibt. Laßt mich nur rasch noch Inspiration suchen.«
Saint-Savin schwebte durch den Raum - schreibt Roberto als mimte er den Flug einer Biene auf der Heimkehr zur Wabe. Er tänzelte fast und ließ die Augen umherschweifen, als müsse er den Text des Briefes aus der Luft ablesen. Dann begann er.
»Signora ...«
»Signora?«
»Nun, wie würdet Ihr sie denn
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