Die Insel, die Kolumbus nicht gefunden hat: Sieben Gesichter Japans
er schien sie erst recht zu aktivieren und setzte ihre potentiellen Energien in kinetische um, und zwar ohne daß die Steuerung des Systems überfordert war. Es schien auf diese Bewährung nur gewartet zu haben.
Im modernen Japan stößt die futuristische Megalopolis unvermittelt an das ländliche Reisfeld, steht der Glaspalast neben der Hütte, deren Komfort – von der allgegenwärtigen Elektronik abgesehen, und natürlich dem teuren Wagen, – etwa dem eines portugiesischen Fischerdorfs entspricht. Eine koloniale Topographie auf den ersten Blick – bei etwas näherer Bekanntschaft stellt man fest, daß man vom typischen Entwicklungsland, heiße es auch Korea oder Singapur, nirgends weiter entfernt sein kann. Das Erscheinungsbild Japans mag heterogen sein, wie es will – das Bewußtsein, das es bewohnt und nützt, registriert keinen Widerspruch daran. Da kann – so ein Titel der ersten auf Deutsch übersetzten Nachkriegslyrik-Anthologie – ein Ladekran »melancholisch« heißen, wie früher das Gras auf einem Schlachtfeld des Mittelalters. Oder: daß eine Baustelle nicht »Natur« sei, ist der Schriftstellerin Tawada Yoko erst nach ihrer Übersiedlung nach Hamburg beigebracht worden. Japan braucht seine Identität nicht zu »bewahren« – das tut es viel weniger, als dem Nostalgiker lieb ist –; es erneuert sie in jedem neuen Werkstoff, es stellt sie im fließenden Fortschritt immer wieder her. Es verfügt über die plastische, quasi-animistische Energie, fremde Materien mit altem Eigensinn zu beseelen, unvertraute Lagen nach bekannten Mustern umzubilden. Die japanische Antwort auf das Inkommensurable von Teezeremonie und Cyberspace, Management-Training und Reinigungsritual ist – keine Antwort; denn schon die Frage dazu leuchtet den Japanern nicht ein. Daß inzwischen auch unsere Manager Esoterik-Workshops besuchen, durchaus mit Gewinn fürs Geschäft, läßt die Frage, was da wohl überholt und was modern sei, in interessantem Licht erscheinen. Die japanische Leistung, technische Innovation immer neu an soziale Integration zu binden, garantiert eine fast unbegrenzte Elastizität und Reaktionsfähigkeit der Gesellschaft.
Solange Fremdkörper in der Dingwelt auftreten, werden sie mühelos japanisiert – etwas anderes ist es wohl mit Fremdkörpern im personalen, im menschlichen Bereich. Hier erkennt das System reflexartig, wer dazugehört und wer nicht: ein abweichendes Muster, das nicht von allen getragen werden kann, wird dem Einzelnen nicht abgenommen.
Trotz seiner auf deutsch unfein »Sekundärtugenden« genannten konfuzianischen Qualitäten ist Japan nicht Preußen, und sein System erwartet keine Lückenlosigkeit. Leerstellen, Undefinierte Räume besetzt es nicht sogleich mit Moral. Es toleriert viel, was es nicht erlaubt: die Regression in kindliche Schwächen, den Rückfall in Wünsche, die von Tugend nichts wissen, in die Narretei, den Rausch, den kleinen Wahnsinn. Ist die Katze aus dem Haus, dürfen die Mäuse tanzen – am festgesetzten Tag, an dem der Zen-Abt das Kloster verläßt, tun die Mönche fast alles, was die Regel verboten hat. Er weiß es, doch er muß es nicht wissen; dazu hat er das Kloster verlassen. Das Regel-Werk funktioniert anpassungsfähig dank der Ausnahmen, welche die Regulierten ihren jeweiligen ÜberichInstanzen abhandeln; dafür nötigen sie ihnen die Züge der verzeihenden Mutter auf. Kann diese gar nicht billigen, was da läuft, so dreht sie ihm eben den Rücken. Hier nach »Konsequenz« zu rufen wäre ein unnötig starkes Stück von Wichtigtuerei. So solide, so gewichtig ist das Selbst nicht, also braucht es auch nicht immer ein Gesicht zum Verlieren. Wo die Moral hundertfältig ist wie die Gestalten Buddhas, erübrigt sich Entrüstung über eine (bloß) doppelte Moral.
Es steckt allerhand Lebensklugheit, Respekt vor dem Menschlich-Konkreten – und es steckt keine großartige, aber eine wirkungsvolle Anthropologie in dieser Koexistenz von Anforderung und Lizenz, von Packen-Müssen und LassenKönnen. Wenn die japanische Lebensart keine abstrakten Imperative verträgt, verträgt sie sich um so besser mit dem, was Kleist »die gebrechliche Einrichtung der Welt« genannt hat. Wer sie mit Idealen erpreßt, wer mit den Provisorien unserer Existenz nicht fehlerfreundlich umgehen kann, der wird ihr auch das Mögliche an Leistung nicht abgewinnen.
So könnte Churchills Rätsel, vom rechten, nämlich beweglichen Standpunkt aus betrachtet, wie das Ei des
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