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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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mehr oder minder – es sind Varianten eines Naturkanons zum Ausdruck von Grenzenlosigkeit, Reinheit und Freiheit:
Wolja
. Reinheit und
Wolja
. Zweimal Sinn in schönster Verbindung! Der Fachmann dürfte die feinen Unterschiede in den Farbabstufungen und im Liniengefüge sicherlich wahrnehmen. Aber der gewöhnliche Betrachter wird sagen, dass da nichts ist, woran das Auge sich festhalten kann.
    Oder doch, daran vielleicht:
Labtachy lorza ninja chanebzjo namdy
– auf einem Buckel mitten in der Ebene sitzt eine Schneeeule.
    Aber meine Kamera ist im Rucksack. Und ich sehe nur zu, wie sie davonfliegt …
    »Schaut mal«, bemerkt Petka gedankenversunken, »die Sonne ist links untergegangen und geht links wieder auf …«
    So lange, wie wir unterwegs sind, hätte sich der See schon längst einmal wenigstens für einen kurzen Augenblick zeigen müssen. Aber um uns her wellen sich in der Stille der Vorfrühe nur Hügel. Kein See weit und breit. Alik hat wohl schon vor einem Weilchen gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Allmählich schwant es allen.
    Wir setzen unsere Rucksäcke ab und essen das letzte Stückchen Schokolade. Jetzt haben wir keinen Brennstoff mehr, aber die Nacht ist ja so gut wie durchquert. Bis auf Tolik sind eigentlich alle ausgelaugt. Er sieht einigermaßen frisch aus, vielleicht, weil ihn das Fett wärmt, das er gelöffelt hat.
    Es ist vier Uhr morgens. Ein Stückchen Sonnenrand ist über die Erde gekrochen.
    »Lass mal überlegen.« Alik entfaltet die Karte, blickt sich um und entdeckt etwas. »Da, dort hinten, siehst du die Baloks da? Vor dem Buckel, unterhalb? Das sind die von Jegor Warnizyn. Das heißt, wir sind nicht an der Kriwaja lang, sondern an der Gorelaja. Über die hätten wir übersetzen müssen … was wir vergessen haben.«
    Schon ist alles klar: Im Dunkeln haben wir den Nebenfluss der Kriwaja für diese gehalten, was uns jetzt ziemlich weit nach Süden verschlagen hat, und so geht die Sonne auch da auf, wo sie untergegangen ist.
    »Das liegt an mir«, sagt Alik und zündet sich eine Zigarette an. »Mein Fehler. Mein ganzes Nervensystem ist auf den Fuß konzentriert. Sogar mein Geruchssinn versagt. Wenn alles in Ordnung ist, kann ich weit riechen. Aber im Moment riech ich gar nichts …«
    Anderthalb Stunden später erreichen wir, vollkommen zerschlagen von dem achtstündigen Marsch durch die Nacht, Jegor Warnizyns Balok, ein gediegenes, ungewöhnlich solides und gut unterhaltenes Häuschen (eine Seltenheit auf Kolgujew), dessen Besitzer eine Renhirtenbrigade leitet. Aber im Korral sind keine Tiere, der Hausherr ist also höchstwahrscheinlich bei der Brigade. Und richtig: Kein Lebenszeichen! Doch die Tür ist unverschlossen, wir stiefeln einfach rein. Ich muss sagen, eine so gemütliche Bleibe, die den Ankömmling sofort aufnimmt und wärmt, war uns noch nicht untergekommen. Bei einem eisernen Ofen war trockenes Holz aufgestapelt, daneben stand ein Teekessel mit Dieselöl. Ein zweiter Teekessel war halb gefüllt mit Wasser. Auf der Pritsche lagen Felle und Wolldecken, darüber standen auf einem Bord vorschriftsmäßig Salz, Zucker und Tee, und auf dem Tischchen neben dem Kopfende lag eine Streichholzschachtel. Auf dem Bord gab es noch zwei Dutzend Zeitschriften, darunter – was mich aus irgendeinem Grund besonders beeindruckte – eine Ausgabe von
Snanije – Sila
! 40
    Wir haben wohl schnell den Ofen angefeuert und uns einen Tee gekocht, um uns dann sofort aufs Ohr zu legen.
    Das heißt, die anderen, nicht ich. Ich habe doch noch meine Kamera aus dem Rucksack geholt.
    Das Häuschen stand auf dem schroffen Ufer eines schnellen, klaren Flüsschens, das hier zwar ziemlich versandete, aber doch durch eine enge Biegung dieses Steilufer eingeschnitten hatte, das einem Amphitheater glich und auf seiner rechten Seite von einem grandios geformten, halb an einen hohen Kurgan, halb an eine kegelförmige Pyramide mit geschleifter Spitze erinnernden turmähnlichen Hügel gekrönt wurde. So, wie ich diesen Hügel zu sehen bekam, sah er nur in den ersten Stunden nach Sonnenaufgang aus: Lichtübergossen und von Vergissmeinnicht bedeckt, war er ein einziger blaugrüner Teppich. Dann verschwand die Sonne und schaute auf einen seiner Hänge erst wieder am späten Abend – schon ohne Kraft, wovon ein mächtiger Altschneeplacken in einer Hangkluft zeugte. Jetzt aber wurde der Placken von der grellen Sonne beschienen, und ein Schmelzwasserrinnsal zog sich blendend durch kräftig rotes und gelbes Moos von dort

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