Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
in der Vergangenheit zurückgeblieben.
Für mich nicht.
Zugegeben, es verging viel Zeit, ehe die Empfindung eines durch jene Nacht gewonnenen Glücks Zukunft wurde. Aber trotzdem. Anfangs schürzte sich im Entwurf des noch nicht geschriebenen Textes ein unlösbarer Knoten: »Die Nacht in der Tundra vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang«. Dieses Kapitel widersetzte sich mehrere Jahre lang der Niederschrift, weshalb es mir in einem bestimmten Augenblick so vorkam, als besäße ich nichts, um es zu füllen, als habe es keinen Inhalt außer diesem schönen Titel.
Aber von wegen! Um den Knoten zu lösen brauchte ich bloß einen zurückliegenden Fehler beheben und noch einmal auf die Insel fahren und wirklich bis zu den Blauen Bergen von Kolgujew und dem See gehen, wohin wir in jener Nacht, die uns zur Siirtja-Kuppe geführt hatte, ja nicht gelangt waren. Und das war natürlich ihre, der Nacht, sichtbarste Folge, die einfachste Manifestation ihrer Zukunft. Dieses Kapitel zu schreiben war schlicht so lange unmöglich, wie ich bestimmte Gesten im Halben belassen und deshalb willentlich oder aus Fahrlässigkeit meine Absichten verraten hatte. Ich hatte zwar niemandem außer mir selber versprochen, zu den Ostryje Sopki, den »Spitzen Kuppen«, zu gehen, aber nicht hingehen – das konnte ich schon nicht mehr …
Erst jetzt, da der Knoten sich gelöst hat und das Kapitel im Fluss ist und ich diese Nacht noch einmal vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang mit dem Wissen durchlaufe, was jedem von uns widerfahren ist, sehe ich, wie fest sie mit allem verbunden ist, was im Leben wichtig war, darunter auch mit solchen Dingen, die anscheinend in keinerlei Beziehung zu ihr stehen.
Die Krim, Paris, das Schreiben, die Geburt des Kindes …
Das ist keineswegs weit hergeholt – alle wichtigen Lebensthemen verknüpfen sich unausweichlich, wie in der Musik. Aber wenn ich sagen würde, dass die Krim im Verbund mit dieser Nacht als Thema des Abschieds erklingt – erklärte das viel? Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, dass der Leser sich an die einstige Flucht des Autors dieser Zeilen von einem Fischtrawler kurz vor dessen Auslaufen erinnert, was verheerende Konsequenzen für sein Selbstbild hatte; die Insel heilte ihn von dieser Niederlage. Die Nacht war eines ihrer Heilmittel. Und die Krim der Abschied davon, das Zeichen der Versöhnung mit sich selbst, die Wiederherstellung der Lebensfülle. Zwei Mal geschah es, dass nach Kolgujew sich eine Krim- und im Anschluss daran eine Parisreise ergab – sowohl 1994 wie 1997 –, und ich weiß: das ist kein Zufall. Auch wenn es keinen Sinn hat, Einzelheiten dieser Partitur zu analysieren. Zumal von fern ein gewisses Donnergrollen hineinspielt, mit dem riesigen, hochaufragenden New York am Horizont und der Stimme eines fernen Freundes. Des mir teuersten Freundes. Und ich weiß, dass es dieser Nacht beschieden ist, noch in einer anderen Erscheinung Wirklichkeit zu werden: sich zu verwandeln in einen Brief an ihn. Vielleicht ist ihr ja beschieden, sich wieder und wieder zu verkörpern, so lange bis ich selber ende.
Eine Folge jener Nacht war ein Abenteuer, das mir – der Leihschein erlaubt die Ermittlung des exakten Datums – am 22. Mai 1998 in der russischen Nationalbibliothek widerfuhr. Ich hätte schon längst zwei auf Deutsch publizierten Texten zu Kolgujew hinterherrecherchieren sollen, hatte es aber bis Ultimo hinausgeschoben, weil ich kein Deutsch kann.
Der Ausdruck »bis Ultimo« ist ebenso wenig Zufall wie das Datum: Am Vortag hatten mir die Ärzte gesagt, in fünf, spätestens sieben Tagen würde ich Vater.
Die Zeit preschte los und stürzte wie die Gondel einer Achterbahn in die Tiefe, mir stockte der Atem, ich hatte das Gefühl, eine Tür werde zugeschlagen und ich müsse noch alles Mögliche schaffen. Gleich gab es Gedränge an der Tür, weil nämlich sofort noch alles geschafft werden wollte, aber den Trumpf des Kunstprimats in Händen, schoben sich die beiden deutschen Texte unbeirrt in vorderste Position, und so musste ich gleich am nächsten Morgen los zur Bibliothek.
Der erste Text ist die berühmte Kolgujew-Beschreibung von Professor Saweljew, die, angefangen bei Trevor-Battye, alle Geographen des 19. Jahrhunderts ausführlich zitieren, sobald sie die Insel nur erwähnen. So kannte ich natürlich einige längere Passagen daraus, aber jetzt musste ich den Beitrag unbedingt in seiner vollen Länge auftreiben.
Der zweite Text war aus einem anderen Grund
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