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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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hinab bis zum Fluss.
    Ich habe dann doch kein einziges Foto gemacht. Ich saß einfach auf dem obersten Rang des Amphitheaters, und beobachtete eine geschlagene Stunde, wie sich die Farben mit der höhersteigenden Sonne veränderten. Ich betrachtete Kolgujew zum ersten Mal von einem mehr oder weniger erhöhten Punkt aus, und was ich sah, hallte in mir wider wie Glockengeläut. Ringsumher war nichts als dieser herrliche, von der Morgensonne durchflutete Raum unter einem blauen Himmel – und es wäre zwecklos gewesen, auch nur zu versuchen, diesen Raum im Foto »festzuhalten«, auf- und mit fortzunehmen: Er ist riesig und will nicht hineinpassen in unsere jämmerlichen Objektive, sich nicht einfügen in Worte, Projekte und Erklärungen. Hier ist er der Herr, ist er das Projekt, und wir sind, bestenfalls, seine Gäste.
    Am nächsten Tag habe ich Alik dann doch gefragt, wie dieser herrliche Hügel oberhalb des Flusses heißt.
    »Siirtja-Sede.«
    Ich gab mich mit der Antwort zufrieden, fragte nicht einmal, was der Name bedeutete. Wir waren noch nicht bereit für die Begegnung mit dem, was in diesem Augenblick sich uns hätte auftun können. Wir befragten die Wirklichkeit nicht, und sie blieb stumm. Vielleicht wollte die Kuppe ein gesondertes Gespräch, unter vier Augen, und war bereit zu warten …
    Kurz nach acht ging ich schlafen, als sich auf einer Blüte neben mir eine Hummel niederließ, davon kündend, dass sich die Luft erwärmte und also ein neuer Tag begonnen hatte …
    Dunkle Tiefen des Schlafs. Im Hochtauchen nehme ich als Erstes einen rostigen, in die Wand geschlagenen Nagel wahr und den trockenen, angenehmen Geruch des glühenden Ofens. Da ist noch ein Geruch: von nicht so ganz frischer, doch wenigstens trockener Kleidung. Kein Geräusch. Oder doch: Atmen. Die Knie angezogen, schnarcht auf der Pritsche Pjotr. Am Boden schlafen auf Fellen Alik und Tolik. Durch ein kleines Fensterchen fällt glashelles Sonnenlicht schräg auf Aliks Gesicht. Unter den Augen, in den Fältelungen um den Mund und in den Furchen der trockenen Haut, die bei direkter Beleuchtung nicht sichtbar sind, hatten sich Schatten gesammelt. Etwas hatte sich da einen Weg gebahnt – Müdigkeit oder Schmerz –, und plötzlich lagen die Züge dieses Gesichts gnadenlos scharf zutage. Deutlich schimmerte darin Grigori Iwanowitschs Indianerphysiognomie. Diese unverhofft entdeckte Ähnlichkeit mit dem Vater hat mich derart verblüfft, dass ich lange wie verzaubert den schlafenden Alik betrachtete: als hätte ich zufällig einen Blick in die Zukunft getan und ihn viele Jahre später gesehen.
    Die Zukunft.
    Jetzt, da so viel Zeit vergangen und beinah alles eingetreten ist, was uns damals fernste Zukunft zu sein schien, da sogar das eingetreten ist, woran wir noch nicht einmal zu denken wagten, ist es an der Zeit darüber nachzudenken, was das ist: die Zukunft. Und was jene Nacht war: Ein jäher Flug durch die Zeit, der uns vom Punkt A an der Küste zum Punkt B im Inselinnern brachte, ein Gegenwartskonzentrat, oder ein Zukunftskondensator?
    Als Alik damals den Plan im Kopf bewegte, eine Nacht durchzuwandern, entwarf nur er diese Nacht als Zukunft; dann präsentierte er seine Idee uns anderen als fertigen Entschluss, und schon begann sie sich in der Gegenwart zu entfalten, bis sie zuletzt Vergangenheit wurde. Dabei schlich sich im Zuge der sich entwickelnden Ereignisse ein Fehler ein, der Plan ging nicht so wie beabsichtigt auf, weshalb wir uns im Endergebnis an einem ganz anderen Ort wiederfanden, dafür aber hatten wir diese Nacht erlebt, die ich sofort, oder zumindest beim Erwachen, als einen unmittelbaren Glücksmoment des Lebens erkannte. Geführt hatte uns ein Fehler, aber das Ergebnis war trotzdem grandios – diese Nacht, die, wie jeder Glücksmoment, voller Zauber und Zukunft war.
    Sicherlich haben nicht alle Beteiligten dasselbe empfunden. Man konnte auch sagen, wir seien durch die Nacht getaucht: durch die Dunkelheit, die Kälte, das Gebüsch, die sonstigen damals nahezu unerträglichen, heute kaum mehr im Gedächtnis haftenden körperlichen Strapazen – und jetzt, in diesem Moment, tauchten wir einer nach dem anderen in dem Häuschen des Brigadiers Jegor aus den Tiefen des Schlafs herauf, als habe alles Geschehene sich in Wahrheit im Traum zugetragen, nur tut Alik der verstauchte Fuß weh, und mein Knie, das sich in der Nacht noch wie vollkommen zertrümmert anfühlte, ist heil und gesund.
    Wahrscheinlich ist für Alik und Tolik diese Nacht

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