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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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zweiten Anlauf schaffte, mich hineinzuzwängen, aber sofort spürte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich hörte ein lautes Knacken – das Geräusch von reißendem Stoff, dann durchzuckte mein kaputtes Knie ein empfindlicher Schmerz, und als ich um mich blickte, lag ich im Flechtwerk der grauen Äste. Wie ein kleines Tier sah ich den Wald von unten: da herrschte Finsternis, summende Insekten stiegen aus dem grünen Gras auf, und über meinem Kopf schlossen sich die knorrigen, mit kleinen, eleganten bläulichen Blättern bedeckten Äste zu komplexen geometrischen Mustern zusammen. Aufzustehen gelang mir nicht, da ich zwischen dicken Ästen festhing und nicht mit dem Boden in Berührung kam, während der Rucksack verhinderte, dass ich mich umdrehen konnte. Ich brachte bestimmt eine Minute damit zu, irgendeinen Halt zu finden, um mich abzustützen und aufzurichten – bei diesen ungeschickten Bewegungsversuchen sah ich sicherlich wie ein Käfer aus, der auf dem Rücken liegt und all seine Beinchen mit rasender Geschwindigkeit gleichzeitig bewegt. Als ich wieder aufrecht stand, stieg ich auf eine Bülte und wollte gerade losbrüllen, als keine dreißig Meter vor mir über den Weiden das Ruder unseres Schlauchboots auftauchte und mich, hin- und herschwingend, zu sich herüberwinkte. Das unheilvolle Gestrüpp verfluchend, schlug ich mir auf Teufel komm raus eine Schneise. Nach einer oder zwei Minuten brach ich auf eine Lichtung durch, wo Alik auf einer Bülte hockte. Tolik und Petka standen neben ihm, Petka mit dem Ruder in den Händen.
    »Tja«, sagte Tolik, als er mich auftauchen sah. »Du hast Gesellschaft gekriegt …«
    »Was ist passiert?«
    Ich sah, dass Alik sich gerade den Fuß bandagierte.
    »Halb so wild«, sagte er. »
Jebtabada jedja …«
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    Es klang für mich, als fluche er.
    »Hab mir den Fuß vertreten,
man char’n
…« 39
    Wir gaben den Versuch, durchs Weidendickicht abzukürzen, auf.
    Weil nun auch Alik lahmte, gingen wir langsamer. Und sachte … ganz sachte … begann diese Nacht. Der Zauber dieser Nacht.
    Noch nie war ich nachts durch die Tundra gelaufen.
    Die Sonne war untergegangen. Sie versank tatsächlich für ein, zwei Stunden und verkroch sich nicht einfach nur im blauen, am Horizont stehenden Wolkenband. Nebliges Dunkel hatte uns ein erstes Mal noch beim Übersetzen über das Haff verschluckt, doch dann hatten wir uns einen steilen Hügel – jenes Vorgebirge, auf dem einst das Altgläubigen-Kreuz stand – hinaufgekämpft, wo sich uns zum Schluss noch einmal die orangefarbene Sonne und der weite, gelbe, einer frischen Gouache gleichende Himmel enthüllten.
    Als wir aber aus dem Weidendickicht herausfanden, da wurde bereits alles von einem vollkommen kalten Himmel überwölbt, nur ein schmaler, wie ein Stückchen abgerissene Rinde aussehender gelblicher Streifen am Horizont zeigte noch an, wo Norden und die Sonne verschwunden war. Wie Meereswogen erhoben sich vor uns die dunklen Hügel. Auch ich hatte eine solche Tundra noch nie gesehen. Denn bislang waren wir ja dem Ariadnefaden der Küste gefolgt, und wenn wir auch durch Einöden gewandert waren, so hatten wir doch die menschliche Gegenwart immer gespürt – sei es auch nur in Form der Buchstaben jenes zerstreuten Alphabets der Zivilisation, das der Ozean ans Ufer gespült hatte.
    Jetzt änderte sich alles. Wir betraten einen Raum, der sich hinter uns schloss, der, je weiter wir gingen, uns desto stärker seinem Gesetz unterwarf und verzauberte. Von dorther, wo das Meer zurückblieb, trug der Wind unverändert Nebel heran, kalt wie Eis und beinahe so feucht wie Regen. Die Daunenjacke, der Rucksack, die Jeans, die Stiefel – alles war klamm, und selbst auf dem zusammengerollten Fell glitzerte Nieselregen in feinen Tröpfchen. Allmählich erstarb das Rollen der Wellen, verstummten die Vögel, und im tiefen, transparenten Halbdunkel der Nacht tat sich uns ein wunderbares Land auf …
    Wir liefen auf einem hohen Flussufer, bisweilen tiefe, von Zuflüssen gegrabene Einschnitte durchquerend. Eigentlich passierte ansonsten nichts in dieser Nacht, teils liefen, teils humpelten wir, aber wir arbeiteten uns vorwärts. Vorwärts und hügelauf/hügelab, und wieder vorwärts.
Tju’unja – tasinja
: was lässt sich machen, wenn auf deinem Weg die Erde von der Pflugschar der Wasser zerschnitten ist. Ansonsten ereignete sich scheinbar nichts Besonderes. Aber wie erzählen, was die Tiefe dunkler Talrinnen unter einem Himmel von durchscheinendem

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