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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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interessant. 1927 – in einem Jahr also, da die traditionellen Verbindungen der russischen Wissenschaft mit dem Rest der Welt schon so gut wie auf allen Gebieten gekappt waren – veröffentlichte der Botaniker Alexander Tolmatschow in Stockholm einen kleinen Bericht mit den Ergebnissen seiner Kolgujew-Expedition von 1925; dass Tolmatschows Arbeit in der
Encyclopedia Britannica
von 1949 erwähnt wird, ist allein dieser schwedischen Publikation zu danken. Darüber hinaus wusste ich nichts über Tolmatschow (bzw. Tolmatchev, so die damals international übliche französische Umschrift) noch über die Expedition von 1925, und diesen weißen Fleck galt es zu füllen.
    Ich habe lange nicht verstanden, warum diese Episode in der Bibliothek sich mir derart ins Gedächtnis eingegraben hat – denn eigentlich war es eine gewöhnliche, beim Arbeiten immer wieder vorkommende Erfahrung, wenn du nach etwas suchst, aber etwas anderes findest, dich so zwar dem Ziel näherst, jedoch zugleich auch die Grenzen deines Nichtwissens weiter hinausschiebst …
    Aber schließlich begriff ich: Auch das war ein Moment des Glücks – dieses Stöbern in Karteikästen, Ausfüllen der Leihscheine, Blättern in den Büchern. Selbst wenn alles hastig vor sich ging, so doch langsam – ungewöhnlich, unfassbar langsam im Vergleich zu dem, was danach begann. Als zwei Wochen später schließlich unsere Tochter geboren wurde, explodierte die Welt und jagte alles in einem Tempo los, dass es einem seltsam vorkommen konnte, sich einst erlaubt zu haben, einfach so in Büchern herumzustromern … Manchmal ist so ein Herumstromern ja das Schönste von allem. Und mitunter ist es sogar schön, sich zu verirren, derart, dass es das Denken irgendwo in die Steppen hinter der Wolga, zu den sandbedeckten Pisten der berühmten Seidenstraße verschlägt … Wenn du vergisst, wonach du ursprünglich gesucht hast, und einfach im Hersagen wie eine Beschwörung die Wörter auskostest: die Sände von Ajgaj, die Sände von Sugasch, die Sände von Narulgen …
    Ruinen. Trockene und verwehte Brunnen. Friedhöfe: Tomschemola, Urmanmola, Agdschunasmola …
    Am Vortag hatten wir auf dem Balkon gesessen, geraucht und auf die Stadt unter uns geschaut, und ich streichelte den Bauch meiner Liebsten, der in diesem letzten Monat voll geworden war wie der Mond. Er war schön, rund, glatt. Warm. Ich presste mich an ihn mit der Wange, den Lippen – auch dies ein Moment des Glücks. Wir sprachen wenig. Wir begriffen beide: Noch eine kurze Zeit, und die Sorgen um das Neugeborene würden unser Leben, diese Zeit, die mit einemmal so nah heranrückte, auf lange fast vollständig in Anspruch nehmen. Was hätte ich schon sagen können? Höchstens dir versprechen, dass wir noch einmal, wenigstens noch einmal, auf die herbstliche Krim fahren würden und, an einem öden windigen Tag allein im Schatten einer Kiefer liegend, dem Schaum der sich brechenden Wellen zusähen, der weiß von den schwarzen Steinen herabfließt … Und selbst wenn es Oktober und regnerisch wäre – dann solls halt Oktober und regnerisch sein, egal, wir fahren noch einmal nach Paris und kaufen wieder gebrannte Kastanien bei dem Algerier am Ausgang der Métro Odéon und streunen allein durch die Stadt, und ich werde dich lieben und brauche nicht vorzugeben, für etwas anderes geschaffen zu sein …
    Saweljew veröffentlichte seine Arbeit 1852 in Berlin, in einem Band des von Adolf Erman herausgegebenen
Archivs für wissenschaftliche Kunde von Russland
, das über annähernd dreißig Jahre systematisch Forschungen zur russischen Geographie publizierte – ein eindeutiges Zeichen für das massive Interesse Deutschlands an den Reichtümern seines östlichen Nachbarn.
    Der Arbeit von Tolmatschow musste ich in den schwedischen
Geografiska Annaler
nachforschen.
    Ich brachte einen ganzen Tag mit meinen Recherchen zu. Lange (und begeistert) folgte ich der Spur von Saweljews älterem Bruder Pawel Stepanowitsch – er war es, der mich nach Zentralasien lockte –, weil mich der herrliche goldgeprägte 10. Band des
Archivs
nämlich nicht vor einem Verleser bewahrt hatte: Unter der Überschrift »Die Insel Kolgujew« waren Professor Saweljews Vor- und Vatersnamen nur mit den Initialen angegeben: A.S. Saweljew. »A.S.« – nicht »P.S.«!
    Zusammen mit dem
Archiv
-Band erhielt ich auch Tolmatschows Arbeit, die zu gut der Hälfte die Kolgujewer Pflanzenwelt beschreibt – was mich wieder an das »Ufer der fliederfarbenen Blümchen«

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