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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Sicht demiurgische Arbeit.
    Auf dem Höhepunkt dieses Einrichtens der schönen Welt nun stoßen auf das Volk der Danu neue Eroberer: die Menschen. Míl, der »mächtige, wilde, rotgesichtige, untadelige, grausame Herrscher«, und seine Söhne. »Und er ging für seine Söhne und Brüder in die Schlacht um die Erde, und er schlug eine Schlacht bei Tailtiu und Druim Ligen, und die Tuatha Dé Danann erlitten grausame Verluste und zogen sich von der Erde zurück.«
    Bedrängt und ihres angestammten Rechts beraubt, in der Welt die Ordnung aufzurichten, wenden sich die Tuatha Dé Danann an Manannán mac Lir. 56 Der Sohn des Meeres schlägt ihnen, als Geschöpfen, die nicht den Gesetzen des irdischen Raums unterliegen, eine originelle Lösung der Landfrage vor: »sich auf die Síde zu verteilen«, dort ein gastfreies Leben zu führen und sich künftig
Síde
zu nennen. 57 In »Das Aufziehen des Hauses der beiden Gefäße« gibt es eine genaue Namensliste, wer sich wo niedergelassen hat. König über die Síde des Südreichs wird Bodb Derg, ihm fällt das Síd Buidb zu, sein offizieller Sitz aber wird das Síd ar Femen, einer der berühmten Zauberhügel in Irland. Dem Síd Midir fällt das Síd Brí Léith zu. Alle in dieser Sage erwähnten Síde (Hügel) haben in der heutigen irischen Toponymik ihre Entsprechung.
    Der »Manannánsche Kompromiss« ist nicht nur deshalb von Bedeutung, weil er die Tuatha Dé Danann vor der (Göttern unwürdigen) Landaufteilung bewahrt, sondern er verleiht vor allem dem Chronotop des keltischen Lebens eine merkwürdige zusätzliche Eigenschaft: In den Síde wird die »Unterseite« des Raums genutzt, sein inwendiges Potential. Zudem fließt in diesem auf so ungewöhnliche Weise veränderten Raum die Zeit nicht linear, sondern eher »in die Tiefe«, was zur Folge hat, dass die Síde nicht nur in den Hügeln wohnen, vielmehr werden alle
Grenzbezirke der Elemente
zu ihrer Domäne: Höhlen, Felsspalten, Schluchten, wundersame Inseln im Ozean – Orte, die sich in ihrer Eigenschaft unterscheiden, doch eines gemeinsam haben: Auf der Schwelle von Raum und Zeit neigen sie zu Selbstverwandlung.
    Natürlich kann
jeder
bis zu einer Wegkreuzung gehen. Bis zu einem Brunnen – Kreuzung der Elemente. Bis zu einem Hügel oder einer Meeresküste – Kreuzung der Räume. Jeder mag unterwegs der Nacht begegnen. Oder einem Schneesturm. Dem Wechsel von Tag und Nacht. Für einen Wanderer ist das nichts Ungewöhnliches, und deshalb ist auch nichts Seltsames daran, dass
jeder
von der Grenze der Elemente in die Welt des Paradoxalen, der Anderswelt, des Spiels von Raum und Zeit geraten kann.
    Im frühen Mittelalter war es für niemanden ein Geheimnis, dass man zu Samhain, dem Fest auf der Grenze zum Winter, unverhohlen, gleichsam offiziell, in diese andere Welt wechseln kann, denn für den mittelalterlichen Menschen stellte sich die Frage »glauben oder nicht glauben« – ob er die Nähe der »parallelen Welt« ernstnehmen soll – nicht. Ihm war, sozusagen von der Wiege an, der Weg selbstverständlich bekannt, ihm stand dieser Kommunikationskanal offen.
    Dieses Geöffnetsein zu den paradoxen Räumen hin erklärt gewiss auch manche befremdlichen Ereignisse in den aus heutiger Sicht »phantastischen« mittelalterlichen Chroniken sowie die »Bedingtheit« des Chronotops der mittelalterlichen (in unserem Fall keltischen) Geschichtsmythologie. Genau hieraus entspringt jene geheimnisvolle »Parallelgeschichte«, die nun schon vierzehn Jahrhunderte hindurch ihr phantastisches, unglaubliches Leben führt. 58
    Die dem Volk der Danu von Manannán mac Lir verliehenen Eigenschaften sind merkwürdiger Natur:
    Die Síde sind berechtigt, an den Festmählern teilzunehmen, deren Vorsitz Dagda innehat, Besitzer jenes Kessels, der nicht nur Symbol der Fülle ist, sondern auch lebensspendende Kraft besitzt; an diesen Festmählern teilzunehmen bedeutet nicht einfach Sättigung, sondern Teilhabe an
des Lebens großer Überfülle
. Unsterblichkeit erlangten die Síde nicht; aber das Wasser aus einem Zauberkessel vermochte einen Toten wiederzubeleben, und so können sie am Zweikampf von Leben und Tod die eine oder andere kleine Korrektur vornehmen.
    Die zweite Gabe, die an die Síde überging, sind Manannáns Schweine. Hier tritt die Idee der Sättigung in Reinform auf, die Idee einer sorgenfreien Glückseligkeit, der Möglichkeit, die inneren Kräfte nicht mit der Not ums tägliche Brot verausgaben zu müssen …
    Die dritte Gabe

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