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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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als Tatsache. Zum anderen gibt es das Buch in dir nicht mehr, es ist wie eine gelöste Aufgabe in die Vergangenheit fortgegangen. Du bist leer und frei, gleich dem Dào. Jetzt begreifst du auch, was das Glück ist: ein Ausatmen, Abfallen aller Kräfte, Leergeschriebensein, ein Freiwerden von dem Projekt, Freiheit.
    Ein Sichhäuten. Die zu eng gewordene abgestreifte Haut.
    Das ist die Belohnung, der in Wahrheit nichts mehr hinzugefügt werden kann.
    Und das Märchen? Ich denke, du hast es gelesen, Liebste. Es nähert sich dem Ende, und nachdem die Götter und Elfen die Insel bereits verlassen haben und die besten Menschen einer nach dem andern sie allmählich auch verlassen, können wir nur noch den letzten Akten des menschlichen Dramas beiwohnen. Es naht das Ende eines Zyklus.
    Weißt du noch, ich habe dir erzählt, wie der zerschundene Raum der Erde bei der Sägemühle an der Kriwaja mir wie ein Trichter vorkam, Überbleibsel einer Schlacht, die jene letzten Götter und Helden, flankiert von den ihnen verbundenen Menschen, sich mit den dunklen Mächten des Vergessens lieferten, um die Insel zu verteidigen? Ich habe einmal versucht, mir diese Heerschar vorzustellen, all diejenigen namentlich durchzugehen, die Schulter an Schulter in dieser Schlacht gestanden haben könnten. Mir fiel der Schamane Iwan Purpej ein und der furchtlose Jäger Chabtschikal, auch Chada Waermi, und Nikita fiel mir ein, der »alte« Grigori Iwanowitsch, Alik, Tolik, und der grauhaarige Iona, den Ada und Wolodja einst als Jungen gemalt haben, auch Ada und Wolodja natürlich fielen mir ein, Trevor-Battye und Hyland, Petka und ich selbst. Was bliebe uns anderes übrig als zu kämpfen, wären wir in der furchtbaren Stunde der letzten Schlacht auf der Insel, wenn am Horizont Finsternis heraufzieht, unklar, ob eine Flotte oder Wolken. Hier hast du den Stoff für ein Märchen. Wir wissen noch nicht, was es ist und worin das Prinzip des Bösen besteht, und wissen folglich nicht, welche die beste Waffe dagegen wäre – ein Schuss aus einem alten mörderischen Gewehr, Trommelschläge, Beschwörungsformeln oder eine Nikolaj-Ugodnik-Ikone mit ölverschmierter Stirn –, aber außer uns gibt es ja wohl anscheinend niemanden, um die Insel gegen den Ruin und den Hexentanz der dunklen, undurchdringlichen Mächte zu verteidigen. Ich weiß nicht, zu welcher Waffe ich greifen soll. Aber vielleicht besteht mein Kampf genau darin, alle diejenigen zu sammeln und namentlich zu nennen, die Verwesung und Untergang entgingen. Dann müssten hier auch die alte Maremjana stehen, der Kaufmann Sumarokow, Kossowski, dieser grundmenschliche Kerl vom Sewerny-Leuchtturm, Kolja Odinzow, Korepanow – alle diejenigen, die die Insel liebten und ihr ein Stückchen ihres Lebens gaben. Vielleicht ist meine Aufgabe ganz einfach: sie alle zusammenzurufen und namentlich zu nennen, um das Bild eines sinnvollen Raumes zu erschaffen, des menschlichen Raumes.
    Vielleicht zerstreut sich mit dem Nennen aller Namen ja die Finsternis wie Dunst? Denn das Böse ist zuallererst Widersinn und Dunkel – und vielleicht verteidige ich ja mit der Sammlung der Menschen zu einer Handvoll Sinn die Insel vor Verderben und Vergessen?
    Jetzt, da alles hinter mir liegt, Geliebte, da all meine Abenteuer und die Abenteuer des Textes zu Ende und die Träume Wirklichkeit geworden sind, haben sich die Kilometer in Zeilen und die Schritte in Worte verwandelt; jetzt, da die törichten Hoffnungen sich wie Dunst verflüchtigt haben, auf meiner Insel wie mit einem Fesselballon davonzufliegen in eine wunderbare Stadt, in deren Mitte sich der Tempel der toten Herrscher erhebt, da das freiwillige Einsiedlerdasein und das Hocken über dem Buch hinter mir liegen, da die Jahre, wie es sich gehört, unwiederbringlich vergangen sind, jetzt fühle ich mich leicht und glücklich, als wäre ich an den Anfang zurückgekehrt.
    Ich betrachte dich. Du hast dich verändert. Deine Frisur ist neu. Du hast mich wiedererkannt. Wahrscheinlich habe auch ich mich verändert und bin von meiner Wanderschaft nicht ganz als der begeisterte Junge heimgekehrt, der einst um ein Märchen für dich fortging …
    Aber anscheinend tut es dir gerade um ihn leid – den naiven Romantiker, der im Lauf seiner Reisen gestorben ist.
    Es tut dir leid um ihn, aber du gehst auf mich zu und küsst mich auf den Mund: Und dieser Kuss ist süßer als der erste Liebeskuss.
    Und ich sinke vor dir nieder und küsse deine Füße und liege stumm da wie ein Tier und

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