Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
wichtigste Gefühl in dieser ganzen Geschichte.
Mal mich – und ich lebe auf
,
Komme aus dem Dunkel der herbstlichen Allee
,
Tauche langsam, einen Apfel kauend, auf
.
Mal mich
.
Wie sonst sollte ich aufleben?
Hier gibt es weder Apfel, noch Allee, noch Herbst –
Nur Lehm, Moor, Himmel einer urzeitlich wüsten Erde
Und die kalt sonnenmelierte leere See
.
Mal mich
.
Hilf
Deiner Erinnerung an mich auf:
Dann will ich vorsichtig
Versuchen
Wenn möglich
Ich zu werden
Ein anderer zu werden
Das Gesicht aus dem Lehm zu reißen
,
Aufzukeimen aus dem Sand
Seis auch als Schößling …
Glaub mir, es macht mir keine Angst als Rentierskelett
Nach Süden weisender Zeiger
Mich in die Tundra zu legen
,
Moltebeere, Fluss, Eis zu werden
Im leeren Auge des Mammuts;
Von Möwen zerpickt
,
Ihr Kot zu werden
,
Weniger als Kot sogar – Kadmium oder Kalzium –
Macht mir keine Angst. Schon lange nicht
.
Aber
.
Ich würde gern etwas anderes sein
Als Torf in diesen Moortiefen
.
Seis nur eine seltene Erinnerung
.
Seis ein Bildchen auf einer Rechnung …
Nun, und dann beendest du, Sklave deiner Arbeit, eines schönen Tages dein Buch.
Das ist das Schlimmste: Denn in diesem Augenblick begreifst du, dass du gestorben bist. Du hattest ein Buch zu Abenteuer, Spiel, Kunst, Qual und Pariadasein – und jetzt ist nichts mehr von all dem übrig. Du hattest ein Buch zur Zuflucht. Du hattest ein Buch zum Vorwand – denn du hast in diesen Jahren zu leben verlernt,
normal
zu leben.
Jetzt gibt es keinen Vorwand mehr.
Dir wurde gleichsam der Panzer heruntergerissen. Natürlich, jetzt bist du frei von Sinngebungen, derer du überdrüssig geworden bist, von mühevoller, einsamer, mit niemandem teilbarer Arbeit – in Wahrheit aber hast du allen Schutz abgeworfen und dich von einem begreif baren Bild der Welt verabschiedet, von einem gewohnten, wortwörtlich eingewohnten Universum und seinem Mittelpunkt, der Insel, die du zu Fuß und in Worten kreuz und quer erkundet hast …
Das gruselige Gemisch aus Entsetzen und Freude nach dem Schlusspunkt unter dem Buch ist vielleicht eines der erstaunlichsten Gefühle im Leben. Grausiger ist nur die Rückkehr. Die Heimkehr nach Hause.
Denn vorzeiten bist du ausgezogen, um »dich zu gewinnen« und der Liebsten als Geschenk eine wunderbare Geschichte mitzubringen, aber … Heim kehrst du nun an einen anderen Ort, in andere Umstände, als anderer Mensch zu einem anderen Menschen … Denn auch sie, deine Geliebte, hat ja gelebt in diesen fünf Jahren, sie hat auf dich gewartet, aber sie hat sich deiner entwöhnt, in ihrem Gedächtnis existieren deine Züge nur noch in dünnen Strichen, wie eine hingeworfene Federzeichnung, die nur deine allgemeinen, wenn auch vielleicht schönsten Züge erfasst.
In diesem Moment beginnst du wie ein Taucher, mit komprimierter Lunge, langsam aus deiner Kavernenfinsternis aufzusteigen an das Licht eines neuen Tages, von dem du, da dir am Schreibtisch jedwede Zeitrechnung abhanden gekommen ist, absolut nichts weißt. Zum Glück triffst du auf der Schwelle zu diesem neuen Tag einen alten Freund, du hast ihn seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr gesehen, und an der Marke seines Autos und der Art zu sprechen, an allem erkennst du, dass er die ganzen Jahre natürlich mit anderem verbracht hat. Ihr erzählt dem Leben hinterher. Er hat sich tatsächlich ins System eingegliedert und ist reich geworden, so dass dir sogar kurz durch den Kopf geht, ob du ihn anpumpen sollst. Aber da fragt er, wo du warst – und während du antwortest, wird dir bewusst, dass du seltsamerweise überall dort warst, wo du hinwolltest, solange ihr noch Freunde wart, solange eure Vergangenheit sich noch nicht gegabelt hatte und die Zukunft noch ein Traum war: Auf deiner Insel warst du und auf Nowaja Semlja und auf der herbstlichen Krim und in Paris … Und dann fragt er aus irgendeinem Grund: »Hör mal, bist du erschöpft?«
Erschöpft … Wie soll ich das sagen?
»Schon, ja …«
»Und Gerüche, nimmst du noch Gerüche wahr? Oder Farben?«
»Ja, doch.«
»Ich nicht. Irgendwie nicht mehr … Ich nehm nichts mehr wahr auf der Datscha. Empfinde keine Freude mehr …«
Und da begreifst du, dass ihr einander nicht helfen könnt. Das Leben hat jedem seinen Preis abverlangt. Und jedem erlaubt, das zu ergreifen, was er wollte.
Und in diesem Moment wird dir dein Reichtum bewusst.
Du hast ein Buch geschrieben. Und das ist eine doppelte Belohnung: Zum einen gibt es das Buch, es existiert
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