Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

finden, wo es raufgehen könnte – aber die Schlucht war schon ziemlich schroff, ein echter Canyon … Na, bleib ich halt hier bis zum Morgengrauen, hab ich gedacht. In der Früh musste ich im Dorf zurücksein – damals war wenig Zeit für die Wahlen. Ich hab mich auf den Schlitten gehockt. Keine Ahnung, ob ich eingeschlafen bin … Jedenfalls sagt plötzlich jemand: »Wart ein Weilchen, leg dich aufs Ohr und ruh dich aus. Dann fährst du nach links – da kommst du durch. Dann nach rechts. Da kommst du wieder raus von hier, nach oben.«
    Bestimmt habe ich geschlafen. Aber jemand hat schon wirklich aus nächster Nähe mit mir geredet. Ich hab mich sofort ganz leicht gefühlt, davor wusste ich keinen Weg nicht. Mit dem Verschnaufen ist die Ruhe wiedergekommen. Nachts wurde es dann heller (bei Nordlicht wird es manchmal ganz hell!), ich sah mich um – und alles war genau so wie beschrieben. Ich fuhr nach links, dann nach rechts, dann hoch – raus aus der Schlucht.
    Einmal als ich bei der Herde war, da bin ich noch mal an die Stelle zurück. Wirklich ein echter Canyon, eine schroffe Schlucht. Ich stand wieder auf dem Vorgebirge. Dann fuhr ich von da oben runter und kriegte solche Fahrt, dass nicht viel fehlte und der Schlitten wär umgekippt. Und ich bin auch wieder an derselben Stelle hoch – auch ein vorkragender Steilhang. Alles, wie damals. Es gibt doch schon Wunder.
    Manchmal seh ich Orte im Schlaf. An denen hält man sich auf im Traum, an diesen Orten, und dann kommt es vor, dass du später irgendwann auf Orte triffst, die du schon kennst. Gerätst da hin, und bewegst dich wie auf bekanntem Boden.
    So ist das.
    59 Grigori Iwanowitsch sagt deutlich hörbar »Tofo-«, nicht »Topografen«; ebenso spricht er oft, wie alle Nenzen der älteren Generation, ein »s« anstelle eines »sch«.

III.
Der Maler Prokopi Jawtysy zeigt seine Bilder
    Wie viele Laienmaler hat Prokopi Jawtysy spät und unvermittelt zu malen begonnen. Dieser ältere Herr mit Tänzerfigur und erstaunlich leichten Bewegungen nomadisierte noch bis 1967 zusammen mit seinem Vater in der Tundra. Nach Abschluss des Leningrader Instituts der Nordvölker arbeitete er als Lehrer. Die Welt seiner Bilder besitzt eine ursprüngliche Poesie und ihre Topoi entstammen zweifellos der schamanistischen Tradition.
    Die Erläuterungen zu seinen Werken wurden am 25. Juli 1994 aufgezeichnet.
    »Lied der Trommel«. Das ist nachts im Tschum. Die Leute lauschen dem Schamanen in der Maske. Sie schauen ihm zu. Vielleicht ist unter ihnen derjenige, der den Schamanen bitten wird, ihn als Schüler anzunehmen.
    Schüler eines Schamanen wird man aus eigenem Wunsch oder durch Herkunft, und aufgrund von schamanischen Merkmalen: gelocktes Haar, Muttermal auf dem Kopf, dem Unterarm oder am Hals. Wenn der Schamane keinen männlichen Schüler findet, dann unterweist er eine Frau. Aber die Initiationszeit von Frauen ist länger. Erst lernen sie den Gesang, dann den Rest.
    »Das Konterfei des Großvaters«. Hier geht es um Mystik. Der Enkel ist mit Vater und Mutter im Tschum. Sie geben ihm das Konterfei des Großvaters. In Fetzen, die von seinen Kleidern stammen, ist es drei Jahre aufgehoben worden. Jetzt sind die drei Jahre um. Sie haben dem Idol die Kleider ausgezogen. Der Enkel muss es im großväterlichen Grab beisetzen und sein eigenes Konterfei herstellen und ihm Kleider anziehen. Und es seinen Kindern geben, damit auch sie mit der Zeit die großväterliche Gestalt annehmen.
    »Reife«.
(Das Gesicht eines alten Mannes, eine große Beere und ein junger Mann in Maliza, die von einem bestickten Gürtel zusammengehalten wird.)
Das ist eine reife Moltebeere. Auch der junge Mann ist eben erst herangereift und bereit, seinen eigenen Weg zu gehen. Der alte Mann hier, das ist sein Vater oder ein anderer Verwandter, der ihn ins Leben hinausschickt, damit er weiterlebt …
    »Das Gedächtnis«. Hier das da, das ist alles, was im Gedächtnis dieses Mannes da ist. Und sein Weg ist wie ein gewaltiger Schnurrbart. Sein ganzes Leben: die Rene, der Tschum, der Schlitten. Er ist selber früher so gefahren. Sein Arm (
er ist über der Tundra und über dem Leben ausgestreckt
), sein Arm ist wie erwärmt, er hat diese Erde herangezogen und beschützt, hat die bösen Geister verjagt. Da hinten da, da fliegen Vögel. Das ist das Gedächtnis, das die Erde beschützt.
    »Der Flug der Seele zum Himmel«.
(Der starre, gelbe Körper eines mit dem Fuß an die Erde gefesselten Mannes, den eine Schneeeule