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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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aus dem Buffetraum gingen die Leute aufs Deck hinauf und genossen den Blick auf den Strom, und der Samowar rauchte, und die jungen Leute tanzten …
    »Vielleicht hat es diesen Eindruck auf mich gemacht, weil ich selber jung war?«
    Ach, Kapitän, ich wusste in diesem Moment nicht, was antworten. Genau zwei Tage später hätte ich den Faden fortspinnen können, da hatte ich an mir erfahren, wie komfortabel es sich mit der
Sarja
reiste, die einem hermetisch abgeschotteten Eisenbahnwaggon mit Wasserstrahlantrieb glich. Sie haben unbedingt Recht, Kapitän, hätte ich gesagt, Flussreisen müssen kontemplativ und gemächlich sein; es gehört sich, langsam und mit genießerischem Auge den Strom hinabzutuckern, und selbstredend gehört es sich, nach einer Frikadelle oder einem Rührei im Buffet, sich unbedingt zum Passagierdeck hinaufzubegeben, um sich dort zu ergehen und seinen Tee zu schlürfen, indes die Abendfrische in den Körper kriecht, und zu tanzen, sofern unter den Passagieren ein guter Akkordeonspieler anzutreffen ist.
    Ich hätte gesagt: Zum Teufel, was haben wir von der Geschwindigkeit, von den gewonnenen Tagen, wenn wir drei des Festes in zwei der Qual verwandeln?
    Wohin hasten wir und weshalb, Kapitän?
    Warum schlagen wir nicht mehr auf der Schiffsglocke die Glasen an, Kapitän?
    Und warum beziehen die Fortschrittstheoretiker immer nur die Geschwindigkeit in ihre Erwägungen ein, nicht aber, zum Beispiel, das wunderbare Plätschern des von den schweren Platten der sich drehenden Schaufelräder herabrieselnden Wassers? Dieses Plätschern, es wird uns entzogen, Kapitän, genau wie die Möglichkeit, auf Deck den frischen Flusswind einzusaugen und den Arm um die warme Taille der jungen Mitreisenden zu legen, mit der einen kleinen überraschenden Walzer in der Dämmerung zu tanzen wir das Glück hatten …
    Hat man uns nicht, unterm Strich, mit all diesem Fortschritt bis aufs Hemd ausgeraubt, Kapitän?
    Unser fiktives Gespräch hält nun schon einige Jahre an. Ein wunderbares und erhabenes Gespräch … Sobald sich mir eine Frage stellt, äußere ich sie, und habe ich keine, so lese ich mir einfach laut diese oder jene Lieblingsstelle aus dem Buch vor, das ich gerade bei mir habe. Jetzt zum Beispiel einen Eintrag von 1909 aus dem Tagebuch von Prischwin:
    »›Gut‹, sagten die Chlysten 6 , ›Ihr lehnt die Kirche ab. Was habt ihr an deren Stelle zu bieten?‹
    ›Was bietet ihr?‹, fragte ich.
    ›Das Leben‹, antwortete er schlicht …«
    Das Leben: Was macht das Leben aus, Kapitän? Wie, in welchen Einheiten soll man jenes Gefühl messen, das auf kommt, wenn auf Deck des flussabwärts tuckernden Dampfers der abendliche Dunstschleier, die Dämmerung und der Holzkohlegeruch des Samowars sich verbinden? Was sagen Sie, Kapitän?
    Der Kapitän antwortet mir immer. Nur was, das weiß ich nicht.
    Aber manchmal wüsste ich es gern.
    Zum Beispiel – in Anlehnung an Prischwin –, dass Würde darin liegt, ein »gemeiner«, durchschnittlicher Mensch zu sein. So gesehen bedeutet die Taufe, mit der man in die Gemeinschaft der Brüder aufgenommen wird, auch ein Sichgemeinmachen. Und unvollkommen ist, wer dieses Gemeinsein nicht kennt …
    Ein kluger Gedanke. Was kann ich darauf antworten? Ich bin ein »Romantiker«, und dementsprechend schleppe ich noch immer den trüb gewordenen Schild der Auserwähltheit mit mir herum … Loswerden müsst ich ihn! Heraus aus meiner Haut komme ich nicht allein – aber ich bin frei, mich dem häutenden Raum so auszusetzen, dass mein innerstes Wesen davon nicht unangetastet bleibt, kann mich Prüfungen aussetzen, die mir die alten Gewohnheiten abziehen. Der Raum wird aus mir einen Menschen machen!
    Ich möchte einfacher sein, durchschnittlicher, ich möchte mich in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen fühlen, und zugleich möchte ich stärker sein; ich möchte das Recht auf eine eigene Stimme erhalten; ich möchte Ereignisse erschaffen …
    Was denken Sie dazu, Kapitän?
    Natürlich denken Sie etwas dazu, aber ich werde es nie erfahren. Leider! Das letzte Mal sah ich Sie, als ich zum Rauchen durch den dunklen Gang Richtung Deck ging. Mit ihrem Schlüsselbund schlossen Sie eine flussseitige Kajütentür auf, ohne mich zu bemerken, traten ein und schlugen die Tür hinter sich zu. So erfuhr ich, dass auch Sie auf dem Anleger schliefen. Bestimmt, weil jeder Fluss seinen Wächter braucht. Habe ich Sie richtig verstanden, Kapitän?
    Gegen Abend meines zweiten Tags in Petschora traf

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