Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Außentreppe steige ich auf das obere Deck, wo ich am Ende eines langen, düsteren Gangs die Tür zu meiner Kajüte finde. Ich lasse den Rucksack auf den Boden fallen, und während ich mir ausmale, mit was für einem Behagen ich mich gleich selber hinlege – nur noch was Heißes! –, suche ich die himmelblauen Kunststoffwände meiner Zuflucht nach einer Steckdose ab. Nichts. Ich kann es nicht glauben, suche weiter, aber: Fehlanzeige. Verflucht. Wenigstens einen Schluck von irgendwas Heißem, hier ist es kalt wie in einem Grab. Ich verlasse die Kajüte Richtung Toilette – dort muss es einen Stecker für die Elektrorasierer geben. Und es gibt ihn! Ich schütte etwas Kaffee in meinen Pott, gieße Wasser auf, hänge den »Tauchsieder« ein und stelle das Ganze ins Waschbecken.
Langsam wird die Spirale des Tauchsieders von Bläschen bewachsen: es sickert Wärme aus der Steckdose. Wärme! Ich preise dich, Tauchsieder, du Erbe einer finsteren Vergangenheit! Des Gulags, der Armeewachhäuschen und Holzeinschlagstellen, der Hotel- und Bahnhofsverwaistheit. Zwei Drähte, zwei Newa-Rasierklingen für einen 1943er Rasierhobel … Hauptsache: Nicht zögern und mit den nackten Drahtenden beherzt nach dem Strom stochern. Holla, sitzt! Der Strom wird gezogen, und rot glüht das Lämpchen überm Waschbecken auf. Ein einziger selbstgebastelter Tauchsieder kann ein ganzes europäisches Hotel durchknallen lassen – aber scheiß drauf: Im Kampf ums Überleben gibts keine Gefühlsduseleien, ebenso wenig im Kampf ums Wohlbehagen, und der Tauchsieder, der wurde vom kollektiven Volksgenie geschaffen, damit du dir an allen möglichen und unmöglichen Orten heißes Wasser machen kannst und einen Tschifir 5 . Der Tauchsieder ist die letzte Waffe des Proletariats.
Der Alvorada-Kaffee schmeckt nicht nur nicht – er schmeckt widerwärtig. Aber er ist heiß! Ich trinke den ganzen Pott, gehe in meine Kajüte zurück, ziehe mich aus und lege mich hin. Schon nach einer Minute spüre ich, wie mir die Kälte aus der klammen Bettwäsche in den Körper kriecht. Ich ziehe meinen Pullover an. Und schlafe ein.
Als ich erwache, finde ich mich nicht gleich zurecht: Wo bin ich? Himmelblaue Kunststoffwände … Nicht das leiseste Geräusch. Angespannt lausche ich in die Stille. Plötzlich höre ich einen Vogelschrei. Eine Möwe. Dann ein Knarren. Seltsam, dieses Knarren … Mein Gott, das ist ein Tau! Es reibt am Poller! Ich bin auf dem Anleger! Und zwar allein: es ist acht Uhr, aber nicht das leiseste Geräusch. Die Zwischenwände sind dünn, wenn noch jemand da wäre, würde ich das auf jeden Fall hören … Ach, du alte böse Beschließerin! Ich werde in die Stadt gehen und den Schlüssel mitnehmen, damit du mir niemand anders dazulegst …
Der Nebel über dem Fluss hatte sich ein wenig gelichtet, in der Ferne konnte man jetzt die großen Hafenkräne ausmachen, deren Stützen ich gestern vom Bus aus gesehen hatte, als wären es die Beine wolkenüberragender Riesen. Eine räudige Ansammlung aus Bootsschuppen zog sich von zwei Fünfgeschossern aus böschungsabwärts bis zum Ufer. Ich hatte Hunger und ging auf das untere Deck, wo, wie mir einfiel, ich gestern ein Schild mit der Aufschrift »Buffet« gesehen hatte. Das Schild hing da, aber an der Tür auch ein Schloss. Ich brach in die Stadt auf, um etwas Essbares aufzutreiben …
Es gibt heilige Städte. Es gibt Städte, die aus der Fülle, aus einer unglaublichen Verdichtung des Lebens, ja vielleicht sogar aus dem Glück entstanden sind. Und es gibt Städte, die im Jahr 1949 entstanden. Aus der Not, und nicht aus eigener Not, sondern aus der des Jahrhunderts, der Not der sozialistischen Produktion. Zu diesen Städten gehört Kotlas – ein riesiger Holzumschlagplatz an der Wasserscheide des inneren Flussbassins der Kama sowie der Nördlichen Dwina, in deren Mündungsgebiet Archangelsk liegt, das mit seinem Hafen zentraler Handelsplatz für Holz ist. Zu diesen Städten gehört auch Tscherepowez – eine Schlaf käfiganlage für dreihunderttausend Menschen neben einem gigantischen Stahlkombinat, das im millimeterexakten Gleismittelpunkt zwischen dem Erz der Kola-Halbinsel und der Kohle des Nordural errichtet wurde. Und zu diesen unglücklichen Städten gehört auch Petschora, das ein besonderer Kreuzungspunkt ist: von Fluss und Eisenbahn. Was der Besucher schnell begreift, denn Städte dieser Art gleichen einander. In ihnen ist alles vor allem zweckmäßig. Es gibt Häuser, Straßen, Gehwege.
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