Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Tagen leben konnte.
Aber jetzt auf dem Fluss … Da fing ich plötzlich an, den
Raum
zu spüren. Den Raum, über den ich keine Macht mehr besaß, in dem alle mir bekannten Spielregeln außer Kraft gesetzt waren. Ihn durchquerend, verband der Fluss zwei Punkte, an denen meine Regeln halbwegs galten: Petschora und Narjan-Mar. Über allem anderen lag vollkommene Fremdheit, und wäre nicht die Gewohnheit gewesen, mit anderen Worten: das Vertrauen in die Landkarten, die über die geographische Lage der Städte Petschora und Narjan-Mar bestimmte Dinge behaupten, etwa dass dieses auf der Grenze zwischen Wald- und waldloser Tundra liege – ich wäre wohl in derselben Lage gewesen wie Ibn-Fadlān 7 , der, was ihm über den Hohen Norden zu Gehör kam, vertrauensvoll und kritiklos übernehmen musste.
Der erste Halt, an den ich mich erinnere, hieß Schtschelja-Dor. Dort mündete ein anderer Fluss in die Petschora, sein Korridor war ein Nebelband, aus dem ein waldbewachsener Schroffen hervortrat.
Im stahlblauen Wasser schaukelte, auf Ankömmlinge wartend, am Ufer ein Motorboot. Leute gingen von Bord und stapften über die knirschenden Kiesel auf das Boot zu. Ich fragte auf der Plattform, was Schtschelja-Dor heißt; es ist Komi und bedeutet »Ende des großen Waldes«, wurde mir gesagt. Schtschelja-Jur wiederum, das wir am Abend erreichten sollten, bedeutet »Anfang des großen Waldes«. Somit liegen zwischen seinem Anfang und seinem Ende zwölf Stunden Weg.
Je weiter die Fahrt ging, desto weltabgeschiedener wurde die Petschora. Im Siedlungsgebiet der Komi tauchten im Passagierraum staunenswerte Gestalten auf. Einmal stiegen drei oder vier Frauen zu. Sie trugen wattierte Plüschjacken, diese längst aus der Mode gekommenen, ländlichen Kazawejkas, und waren zudem fest in Tücher eingemummelt. Eine so sehr, dass ihr Kopf einem großen, runden Kohlkopf glich, aus dessen Blätterlagen ein Eulengesicht hervorlugte, wie es eigentlich nur eine Großmutter aus dem Märchen haben kann, die im Wald lebt und irgendwelche Zaubermittel und -worte kennt … Eine Alte, bestimmt um die neunzig und von oben bis unten tücherumwickelt, wurde buchstäblich wie eine Statue in den Passagierraum getragen, sie sollte zu irgendwelchen Verwandten gebracht werden. Sie saß, aus ihren uralten Augen starr geradeaus schauend, vor mir, aber just da fiel ich in einen Halbschlaf; als ich zu mir kam, wurde sie wieder hinausgetragen, und ich musste mit anpacken: Sie war schwer und sperrig wie ein Schrank, aber vom Ufer griffen bärenstarke Männerarme mit zu und hoben sie an Land, wo ein Pulk von Verwandten sie den Pfad die Böschung hinauf und hinüber zu den Häuschen eines kleinen, zwischen Fichten hindurchschimmernden Dorfes schleppte.
Die Petschora ist ein sehr einförmiger Strom: Fichten auf der einen, gelbe blanke Sandflächen und undurchdringliches Weidengebüsch auf der anderen Uferseite. Einmal aber bot sich ein ergreifender Anblick dar: An einer Stelle schieben sich von beiden Seiten her drei Bergrücken an die Ufer heran und ragen mit keilförmig-spitzen Vorgebirgen in den Fluss hinein, der zwischen ihnen hindurchströmt wie durch Tore: das vordere schwarz, das mittlere blau, das hintere grau. Und in der Ferne keine sichtbare Grenze mehr zwischen dem grauen Himmel und dem grauen Wasser. Weshalb es scheint, als fließe der Strom in den Himmel. Oder ins Meer. Dorthin (in den Himmel oder ins Meer) hat er alle mitgenommen, die auf seinem Weg aus Erschöpfung oder Unachtsamkeit starben. Menschen verschiedenster Völker, alle von ihm zu einfachsten mineralischen Partikeln zermahlen, alle Teil von ihm geworden, der mit seiner Gestalt diese Ufer verbindet …
Bei einer Zigarette auf der Plattform kam ich zufällig mit einer Frau ins Gespräch. Sie hatte ein einfaches, gutes, kluges Gesicht, trug einen gediegenen grünen Mantel und einen Hut. Sie stammte aus dem Dorf Sachar-Wan und leitete dort die Schule. Sachar-Wan ist nichts anderes als Iwan Sacharowitsch auf Komi, wo der Vatersdem Vornamen vorangestellt wird. Das Dorf wurde also von einem Iwan Sacharowitsch gegründet. Inzwischen ist es über hundert Jahre alt und zählt, wie meine Zufallsbekannte sagte, rund fünf hundert Einwohner. Es sei ein guter Ort. Mit einer Rinderfarm. Sie wollen die Sowchose nicht auflösen, ungeachtet der Dekrete von oben: 8 Als Einzelbauer hat man es schwer hier, der Boden ist karg, nichts als Sand und Moorboden … Sie selbst hat drei Landwirtschaftskampagnen miterlebt:
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