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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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die
Sarja
aus Narjan-Mar kommend ein und sollte am nächsten Morgen wieder dorthin auf brechen. Ich traf zufällig auf die letzten Passagiere, die über den Pfad die Böschung herauf kamen. Unter ihnen auch mehrere Ausländer, junge Leute mit Rucksack, die völlig frustriert aussahen. Warum habe ich sie nicht angesprochen? Ich erinnere mich nicht mehr. Was mochte sie so deprimiert haben? Keine Ahnung: Sie kamen ja da her, wo ich gerade erst hinwollte. Meine Reise hatte ja im Grunde noch nicht begonnen …
    Im Laufe des Abends füllte sich der Wartesaal auf dem unteren Deck mit den neuen Passagieren, die meinem Einsiedlerdasein auf dem Anleger ein Ende machten. Ich erinnere mich, dass ich zur Toilette ging, um meinen Abendkaffee zu kochen. Ich hantierte gerade im Halbdunkel mit dem Tauchsieder überm Waschbecken, als eine Frau hereinschneit, erschrocken wie der Teufel vorm Weihwasser aufschnaubt und in den Gang zurückweicht.
    »Keine Angst«, sage ich, aus dem Schatten tretend, um ihr Mut zu machen, »ich koch da bloß Kaffee …«
    Das Zischen des schwarzschaumig ins Becken überbrodelnden Gesöffs untermauert meine Worte. Aber das verwirrt meine zukünftige Reisegefährtin nur endgültig, Hals über Kopf stürzt sie treppabwärts davon, gewiss überzeugt, etwas sehr Unerquicklichem entgangen zu sein.
    Ich rauche eine Gitane und trinke meinen Kaffee. Was nicht hilft. Eine Unruhe nagt an mir. Der Himmel hängt niedrig, eine Mischung aus Nebel und Regen. Das Wasser bleigrau und düster, das Deck feucht. Auf dem gegenüberliegenden Ufer der rote Widerschein der Richtfeuer. Vereinzelt ein Schlepper, der nichts schleppt. Und wie ein Ertrunkener trieb, schwer und bleich, ein Baumstamm vorüber …
    Vier Uhr. Wieder einmal. Ich nenne die Uhrzeiten, weil von Anbeginn der Reise an die Zeit ein unbegreifliches Spiel mit mir trieb. Ich fiel aus der gewöhnlichen heraus, so sehr, dass ich Tag und Nacht nicht mehr unterschied. Wenn die Psychologen Recht haben, die behaupten, in archaischen Kulturen besäßen die Menschen ein »Traumbewusstsein«, in dem jene »Knoten«, »Einstellungen« und neurotischen Vernietungen nicht existieren, die das Denkmuster des zivilisierten Menschen prägen, bei ihnen ströme vielmehr die Wirklichkeit (und mit dieser die Träume) wie ein Film durchs Bewusstsein, so lässt sich sagen, dass ich diesen Zustand erreicht hatte, denn auf dem Fluss vermischten sich Traum und Wirklichkeit endgültig. Ich schlief in Schüben, mal hier, mal da zwanzig Minuten, träumte, sah ein zartgolden im Gras schimmerndes Blatt, eine Eiche im Wald, den Fluss, Menschen, die den Salon betraten und wieder verließen, sah das Gesicht meiner Geliebten und erneut das graue Wasser und die langen Sandbänke, die der Strom in seinem mäandernden Lauf am niedrigen Ufer hinterlässt. Nicht von ungefähr war ich außerstande zu fotografieren, die Landschaft und das Antlitz dieses Wegs anzuhalten: Alles war … Nein, nicht schnell. Aber ungreif bar,
im Fluss
.
    Vor zwei Tagen hatte unser Schiff um sechs Uhr morgens abgelegt. Ein alles andere als erhebender Auf bruch: Das Innere des wasserstrahlangetriebenen Dampfers
Sarja
gleicht wahrlich eher einem auf sechzig Fahrgäste ausgelegten Triebwagen, und in diesem Triebwagen soll man zwei Tage zubringen. Frauen, Kinder, schicke Jungs und Mädels, mürrische ältere Passagiere mit Gepäck – alles teilt sich denselben Raum. Es gibt kein Buffet, keinen Ausgang aufs Deck, nichts. Das einzige, was man tun kann, ist, auf der Innenplattform vor der Kapitänskajüte zu rauchen, wo man mit Erlaubnis des Matrosen Kostja die Tür einen Spaltbreit öffnet, damit der Rauch abziehen kann.
    Wäre ich nicht in Russland geboren und mit den Überlebensregeln in diesem Land immerhin vertraut, so hätte mich die ganze Umgebung wohl weniger überrascht als entsetzt. Sie unterwarf sich einfach nicht den Gesetzen, die ich von Moskau her gewöhnt war. In Petschora auf dem Anleger konnte ich, was um mich herum vorging, irgendwie noch mit dem mir Gewohnten verbinden: Der Anleger war zwar seltsam, aber doch eine Bleibe, von wo ich – sofern mir danach war – in weniger als vierundzwanzig Stunden in meine Welt zurückkehren konnte. Zwar schien die Zeit qualvoll langsam zu verstreichen, aber ich bremste meine in Moskau hochgepeitschte Zeit mit aller Macht, auch begann ich den Tag unverändert morgens und beendete meine Aktivitäten gegen Abend, wodurch ich bewies, dass ich warten und in diesen maßlos langen

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