Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
die Mais-Kampagne unter Chruschtschow, die Liquidierung perspektivloser Dörfer und Gorbatschows Kampf gegen den Alkoholismus. Aber ihr Dorf hat in allen drei Schlachten gesiegt: hat keinen Mais angebaut, sich nicht liquidiert und mit dem Wodkatrinken nicht aufgehört. Obwohl, während der Mais-Kampagne wäre sie fast bestraft worden. Sie war damals Schülerin und sollte an der Aussaat teilnehmen, da hat sie gesagt: Wozu denn den Mais verbuddeln, kommt, wir essen ihn lieber …
Ich fragte Rosa, ob das Dorf in den Dreißigern nicht entkulakisiert wurde. Nein. Wen hätten die denn wohin umsiedeln sollen?
Außerdem sind sie ein kleines Volk, das mag keine Verräter. Hier hat keiner den andern denunziert. Dann erzählte sie, wie gut sie leben, wie einträchtig und vernünftig – nicht so, wie in der Stadt, gegen jeden Verstand. Ein junger Mann, der heiratet, baut vorher sein Haus. Im Winter, wenn die Landwirtschaft brachliegt, reitet er mit seinen Brüdern oder Freunden tief in den Wald, um die besten Bäume zu fällen. Nach einer Woche kommen sie wieder, gehen in die Banja und heben kräftig einen. Im Frühjahr, wenn der Fluss noch vereist ist und die Flugzeuge wegen des aufgeweichten Bodens noch nicht landen können, fangen sie mit dem Hausbau an, wobei die ganze Verwandtschaft mit anpackt. Zum Sommer ist das Haus dann fertig …
»Ach, muss es gut sein, bei Ihnen zu leben«, entfuhr es mir unwillkürlich, was Rosa antworten ließ:
»Können Sie russische Literatur unterrichten?«
»Warum nicht.«
»Dann kommen Sie zu uns.«
Ein toller Gedanke ging mir durch den Kopf: Ich bräuchte in diesem Sachar-Wan nur von Bord gehen, müsste nur meinen Rucksack nehmen und einen Schritt von der
Sarja
herunter tun, und ich würde für immer aus meiner Welt mit all ihren Sorgen herausfallen, würde mich in diesem Raum auflösen, würde, verheiratet mit einer der Urenkelinnen dieses Iwan Sacharowitsch, zu seinem Urenkel werden, würde Komi lernen und meine eigene Sprache vergessen, wie die Frau aus Petersburg, die hier schon lange lebt – und niemand würde je erfahren, wo ich bin.
Ja, wir haben alle einen Grund, unser Leben mit seinen Nervereien und ungelösten Problemen zu hassen – aber bist du von ausreichend schlichtem Gemüt, um in Sachar-Wan dein Glück zu erringen? Denk nach, Fliehender, eh du das Schiff verlässt!
Es hatte mich natürlich nicht überrascht, dass der Fliehende sich plötzlich vorschob. Er ist nie fern, genau wie der weise Inder, den ich mit mir herumtrage, oder der furchtlose Künstler und alle Piraten, Reisenden und Alchimisten, die seit meiner Kindheit in mir existieren. Dass er bisweilen Exklusivrechte an mir geltend macht und mir einflüstert, seiner Logik zu folgen, ist insgesamt erklärlich.
Nicht nur tauchte in allem, was ich damals schrieb, auf die eine oder andere Weise das Motiv der Flucht auf, sondern auch in allem, was ich las. Alle von mir bevorzugten Autoren umkreisten dieses Thema in irgendeiner Form: Hesse in seiner Erzählung
Klein und Wagner
und in
Klingsors letzter Sommer
, Updike im
Hasenherz
, Simenon im
Negerviertel
, Salinger … Antonionis Film
Beruf: Reporter
projizierte meine eigenen Stimmungen auf die Leinwand …
Schließlich hätte es ohne Flucht keinen Herman Melville gegeben und keinen heiligen Franz von Assisi, keinen … nun, keinen Rimbaud oder wer immer zur Kohorte der großen Fliehenden gehört.
Generell wurde die Flucht im 20. Jahrhundert zu einem sehr wichtigen Thema, ging es doch immer auch um die Bewahrung der Individualität als solcher. Weshalb sich auch bestimmte mit ihr verbundene negative Momente – das, was im großen Ganzen unter dem Begriff
Verrat
gefasst werden kann – rechtfertigen lassen. Denn die auf Befreiung zielende Flucht ist ein Triumph der Individualität, vielleicht der letzte, aber eben doch ein Triumph. Die Protagonisten spüren, in einer symptomatischen Situation, die vollkommene
Unfreiheit
voraus, die mit einer neuen Weltordnung und deren unerbittlicher Maschinerie und Statik heraufzieht. Selbstverständlich beinhaltet dies einen Bruch, eine räumliche Veränderung, die Möglichkeit, sich in einem Jenseits zu
verstecken
. »Jenseits der Berge, jenseits der Wälder, jenseits der Meere«, wie es in einem unserer russischen Märchen heißt. Vielleicht erscheinen die zahllosen Fliehenden des 20. Jahrhunderts den Menschen des 21. befremdlich, was aber nur bedeuten würde, dass sie nirgendwohin mehr fliehen können.
Vor Schtschelja-Jur
Weitere Kostenlose Bücher