Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Schriftsteller und Künstler, die es gelernt hatten, echte Dramen aus Schwachsinn und gröbstem Unfug zu schaffen, aus Entartung, Brutalität, Schicksalslosigkeit …
Ich will das nicht mehr. Will es einfach nicht mehr. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, wird mir endgültig klar, dass das ganze Grauen unseres vergangenen Lebens, das Experiment des gelebten Kommunismus, mit dem wir uns vor der restlichen Welt, kamen wir mit ihr in Berührung, auch noch brüsteten – dass dieses Experiment wirklich
grauenvoll
ist, ebenso grauenvoll wie die Gefängnis- und Lagersitten, dass es aber – genau wie diese Gefängnis- und Lagersitten – niemanden interessiert außer denjenigen, die davon erzählen. Und zu recht. Denn die Welt ist groß und herrlich, und wenn einer nur die geringste Chance hat, sie von dieser Seite kennenzulernen, ist es sträflich, sie nicht zu nutzen. Natürlich ist der kommunistische Sadomasochismus ein erstaunlicher Mechanismus der psychologischen Selbstregulierung innerhalb der sozialistischen Gemeinschaft und verdient als eine der wichtigsten Errungenschaften des totalitären Systems minutiöse Untersuchungen durch die Fachwelt. Aber das soll jemand mit stabilerer Psyche als ich machen. Ich selbst bin, wenn wir schon von dem Thema reden, ein Produkt des alten Systems, und augenblicklich ist mein einziger Wunsch: mich von seinen bedrückenden Sinnsetzungen loszureißen.
Genauer, von seinen Widersinnigkeiten.
Ich muss fortgehen, den Blick davon lösen, damit ich lerne, anderes wahrzunehmen. Etwas, das mich verzaubern könnte.
Ein Bild. Ein Schicksal. Einen Charakter.
Heute bin ich vielleicht damit in Berührung gekommen. Als ich gegen Mittag zum Anleger zurückkam, um meine Schiffskarte für die
Sarja
zu kaufen, und wieder ans Kassenfensterchen klopfte, da sah ich, als es aufging, hinter der abweisenden Schalterfrau einen Mann, der mich mit seiner einwandfreien Haltung und den vornehmen Gesichtszügen sofort beeindruckte: Zügen nicht einfach eines klugen Gesichts, sondern eines guten, seltenen. Zu sagen, ich hätte ein solches Gesicht schon einige Tage nicht mehr gesehen, wäre eine Banalität; Züge wie diese sind, da in ihnen Schönheit und inneres Licht, Güte und Kraft sich verschränken, wirklich eine Seltenheit. Auch seine Kleidung, ein tadelloser dunkelgrauer Anzug mit Weste und Uhrkette, passte nicht zur Umgebung. Nach dem Gespräch, das wir führten, empfand ich eine eigenartige Herausforderung: zur Würde. Mit seinem ganzen Äußeren und all seinen Manieren, die man am ehesten hätte aristokratisch nennen können, wäre da nicht seine einfache Herkunft gewesen, widersetzte sich dieser Mann der Elementargewalt des Zerfalls und dem daraus erwachsenden Pöbel. Er konnte natürlich nur Walentin Nikolajewitsch Onschin sein, der Kapitän des Anlegers.
Ich stellte mich vor. Mein etwas abgerissener touristischer Aufzug überraschte ihn anscheinend, aber er stand auf, fragte entgegenkommend:
»Ist mit der Übernachtung alles in Ordnung?«
Das Gestell seiner Hornbrille fasste zwei dicke Gläser ein, hinter denen die Augen sehr groß und gütig wirkten.
»Danke, alles in Ordnung …«
Als ich ihn um ein Gespräch bat, schaute er verwundert:
»Worüber sollen wir denn reden?«
»Über den Fluss.«
Wir stiegen hinauf in eine Art Deckshaus, das sich hinter einer der unscheinbaren Türen des Anlegers verbarg. Er öffnete eine Tür auf einen rund ums Deck führenden Laufgang, setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Dann begann er unvermittelt vom schwindenden Leben auf der Petschora zu erzählen, dass wegen mangelnder »Rentabilität« die meisten Passagierverbindungen eingestellt seien, der Hafen ruht, die Kräne stehen still (tatsächlich hatten sich die Hafenkranausleger seit ihrem Auftauchen aus dem Nebel kein einziges Mal bewegt), und die roten Schuten dümpeln wie leere rostige Tröge im Wasser …
»Ist sowas vielleicht ein lebendiger Strom!?«, rief er, vom Gefühl mitgerissen.
Eine Sehschwäche und ein kränklicher Magen hatten verhindert, dass er ein echter Kapitän wurde; er hatte wer weiß wie oft die Arbeit gewechselt, bis er schließlich Chef auf dem Flussbahnhof von Petschora wurde, runde zwanzig Jahre nun schon, aber an die Zeit, als das Leben auf den Flüssen im Hohen Norden noch pulsierte, erinnerte er sich offenbar lebhaft, er erzählte, wie auf der Dwina Raddampfer fuhren, schwerfällige Zweidecker, auf denen sich alle wohlfühlten und wo es fröhlich zuging, und
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