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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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Busverbindungen. Geschäfte. Frisöre. Apotheken. Kinos. Bibliotheken. Es gibt scheinbar alles, aber im Kern ist alles leer, nichts lässt plötzlich zusammenzucken durch das Grandiose seines Entwurfs, der in der Unmenge an herbeigeschafftem Material – Gestein, Holz, Glas, Metall – sichtbar würde, nichts beeindruckt durch seine Maßlosigkeit, die ja genau jede Zweckmäßigkeit negiert, wie beim Glockenturm Iwan der Große oder bei der Isaak-Kathedrale, dem Tower, dem Eiffelturm …
    Es mag ja absurd sein, von einem Städtchen Metropolengröße und -grandiosität zu erwarten, aber wird Istra denn nicht ewig überdauern – so lange, wie in seinem Zentrum, halb im Boden versinkend, halb himmelwärts strebend, die riesenpilzhafte Auferstehungskathedrale steht? Trägt sie, sie allein, denn nicht die Stadt wie Atlas das Himmelsgewölbe? Die vernachlässigte Festung des alten Isborsk wird das heutige Isborsk überleben und einem neuen als Keimzelle dienen, das sie in sich aufnehmen wird als sein Herz. Deshalb hat jeder das Recht, auch von einer kleinen Stadt zu verlangen, dass sie ihr Gesicht offenbare: denn jede Stadt ist ein von der Menschheit auf der Erde hinterlassenes Symbol. Selbst bescheidene Städte können die Seele aufwühlen mit den Spuren einstiger markerschütternder Schönheit, die sie noch immer umhüllt wie ein Segen oder zumindest wie eine Befragung, die die Ursachen für diesen unumkehrbaren Niedergang zu ergründen sucht …
    Nichts dergleichen gab es in Petschora, und wäre da nicht eine bestimmte betonte Akkuratesse gewesen, die die Stadt sich beizugeben versuchte, so hätte ich den Ausdruck ihres Gesichts ohne Scheu als oligophrenisch bezeichnet. Was mit dieser Akkuratesse betont wurde, war … Wie soll ich sagen? Ein Mangel an
Individualität
im Leben der Stadt, an etwas schwer Fassbarem, was die Menschen bewegt, das Haus zu verlassen und in der Stadt zu leben, zu essen, Geschäften nachzugehen, ein Bier zu trinken, sich auf einer Bank zu küssen, unentwegt die Häuser, Höfe, Bäume, Grünanlagen sich anzuprobieren, sie sich anzuverwandeln, und unentwegt zahllose Ergänzungen in den ursprünglichen, geradlinigen architektonischen Plan einzubringen in Gestalt eigener Pläne und dadurch alles gehörig zu verwirren und die Stadt schließlich lebendig zu machen. Vielleicht habe ich von Petschora zu viel verlangt? Schon möglich. Aber diese Stadt liebte auch mich nicht, vergalt mir Gleiches mit Gleichem. Anscheinend mochte sie generell keine ziellos flanierenden Journalisten auf Durchreise. Jedenfalls bot sie ihnen keine Essensgelegenheit. Denn in der Stadt gab es kein Café: als Teil ihres Prinzips. So, wie in ihr das Flanieren als Prinzip fehlte, denn zu diesem gehören unbedingt stimmungsvolle Pausen: eine schöne Aussicht, um sich daran zu ergötzen, oder zumindest ein Schaufenster, um sich daran die Nase plattzudrücken, ein Lädchen, mit dessen Besitzer sich ein Schnack halten lässt, ein Bierausschank, dessen Wirt nach Mitternacht selber ein Gläschen mitzutrinken bereit ist, ein Museum der Schädlingskäfer oder der Filzhüte, eine Eiche, gepflanzt zu Ehren des neugeborenen Thronfolgers, und nicht zuletzt einfach ein geliebtes, von irgendwem seiner Schönheit wegen geliebtes Plätzchen …
    Zweifellos haben in Petschora die alten, oberhalb des Flusses gelegenen Häuser der Komi ihre eigene Anziehungskraft, aber von ihnen gab es nicht mehr als ein Dutzend; dahinter begannen die Viertel mit den gleichförmigen Fünfgeschossern aus der Chruschtschowzeit, mit deren holzschuppenbestandenen Höfen und ihren Straßen, in denen es wortwörtlich nichts gab, woran man sich festhalten könnte: Mich trieb es in ihnen umher wie eine windzerknitterte Zeitung. Bis es mich zuletzt auf den Markt wehte, wo ein paar Kaukasierinnen Daunentücher und warme Wolljacken verkauften. Zwischen sie gequetscht ein Mann, die Gesichtshaut dunkelgegerbt wie bei Menschen, denen das Leben schwer und brutal zugesetzt hat. Er bot ein Paar Unty feil, diese hochschaftigen sibirischen Stiefel mit dem nach außen gekehrten Fell. Zu essen gab es nichts …
    Du glaubst, das habe mit meiner Flucht nichts zu tun, mein Freund Pjotr? Hat es, und wie! Denn vor dieser Absurdität, diesem sinnlosen Dasein, diesem Leben ohne Schicksal, ohne Bestimmung war ich ja auf der Flucht … Mir rückte der Widersinn auf den Leib, noch ein, zwei Atemzüge und ich würde mich anstecken, daran erkranken, wie so viele andere daran erkrankt waren:

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