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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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dümpelten im grauen Lehm der Ebbe zwei, drei Motorboote, rostige Fässer, Heizungskörper … Rechts der Straße standen die Häuser: gestaffelte Reihen von Baracken, in den Korridoren dazwischen Verschläge aus buntscheckigstem Material, auf deren Dächern gelbe Knochen getrocknet wurden. Von weitem sah das Ganze aus wie ein chaotisches Lager von Rohren, Antennen, Zäunen, Wäscheleinen, Hundehütten, Holzschuppen und noch winzigeren Verschlägen, vielleicht Erdkellern, zwischen denen erregte Frauenstimmen und Hundegebell hin- und herwogten, als ginge dort, im Herzen der Siedlung, etwas Ungutes vor sich. Durch die Lücken zwischen den Häusern sah man eine brettflache, braune Moorebene: bis zum Horizont, so weit das Auge reichte. Mitunter trugen Windböen das ferne tiefe Brummen eines Dieselmotors heran, zerpflückten es und trugen es fort.
    Niemand lud den Fliehenden zu einem Tee ein.
    Der Hubschrauberlandeplatz war so gut wie menschenleer.
    Diejenigen, die mit der eingetroffenen Maschine aufs Festland zurückfliegen sollten, waren schon eingestiegen. Ihm ging durch den Kopf, dass es vielleicht noch nicht …
    Aber das war eine vorübergehende Schwäche: Zum Teufel mit dem Helikopter; als der abhob, bemerkte er es nicht einmal. Und erst als er sich mit einem Blick auf den Landeplatz von dessen Leere überzeugte, begriff er, dass er nun aufgehört hatte, all das zu sein, was er bis dahin gewesen war, es gab keine Fessel mehr, aber auch keinen Schutz, und das, was er sein »Ich« genannt hatte, oder zumindest dieser Körper, der ihm geholfen hatte, all die räumlichen Veränderungen vorzunehmen – befand sich jetzt ganz und gar in der Gewalt der Insel.
    Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, es hatte zu regnen angefangen.
    Da machte er noch eine Wende, um 90 Grad, und ging schnurstracks auf das Haus zu, das er gleich »Verwaltungsgebäude« getauft hatte und dessen Vorderfront als riesiger hölzerner Tschum stilisiert war, an den sich linkerhand ein Anbau in Isba-Gestalt anschloss (was vom Meer her einen besonderen Effekt ergeben mochte, und ebenso bei bestimmten perspektivischen Verkürzungen aus der Luft, wo man den einen oder anderen Kader eine Ehrenrunde drehen ließ).
    Drinnen: Halbdunkel, ein langer Korridor, grün gestrichene Wände.
    Das Büro des Dorfsowjets war nicht besetzt, also suchte er das des Sowchosedirektors. Er klopfte, öffnete einen Spaltbreit die Tür. Ein hochgewachsener Mann mit knochig-breitem, klugem, ausdrucksvollem Gesicht und im Anzug kam hinter dem Schreibtisch hervor und fragte entgegenkommend, voller Hoffnung:
    »Sind Sie der Zootechniker?«
    »Nein«, musste er zugeben.
    »Dann ist der Zootechniker nicht mitgekommen«, stellte der Direktor mit ruhigem Bedauern fest. »Und wer sind Sie?«
    »Ich bin Fotograf.«
    »Was?«
    »Fotograf.«
    Aus irgendeinem Grund beschloss er, sich als Fotograf zu bezeichnen. Eigentlich bestand genau darin die Freiheit: Niemand kannte ihn hier, und er konnte sich erlauben zu sein, wer er wollte. Fotograf … Sehr praktisch! So brauchte er keine idiotischen Fragen zu stellen, wie er es sein ganzes Journalistenleben hindurch getan hatte, brauchte sich nicht für etwas zu interessieren, was von keinerlei Interesse war. Geh einfach hin und sieh dich um. Stell eine Frage, wenn dir danach ist. Schweig, wenn dir danach ist. Meinetwegen die ganze Zeit – niemand wird wagen, dir Vorhaltungen zu machen: Warum interessierst du dich nicht für unsre Probleme, sag? Fragst nicht nach der Größe der Rentierherde, nach der Menge der angelieferten Kohle? Keine Verpflichtungen dieser Art. Dafür das Recht, ein klein wenig genauer hinzuschauen, als es den anderen erlaubt ist; das Recht, zu schauen – das allen unverständliche Privileg dieses merkwürdigen Berufs …
    Die Leichtigkeit, mit der seine Verwandlung vonstatten ging, verblüffte ihn nicht weniger als das Wort »Fotograf« den Sowchosedirektor. Der dachte eine Weile nach, dann fiel der Groschen:
    »Ah, Sie schickt die
Narjanka

    »Nein, ich komme aus Moskau.«
    Lastende Stille machte sich breit.
    Der Fliehende sah sich um. Das Büro war viel zu groß – und folglich kalt –, hinter dem Schrank, zusammengerollt, eine rote Wanderfahne, an der Wand eine Karte der Insel. Die Karte inteessierte ihn, mit ein paar Schritten stand er vor ihr und begann sie zu studieren.
    »Der Vorsitzende ist momentan abwesend«, presste der Direktor der Sowchose hervor. »Befördert … In die Kreisstadt … Mit demselben Flug

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