Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
deinen Nächsten in einer so erbärmlichen, hilflosen Lage, du ausgemachtes Arschloch …
Aber er hat ihn nicht fotografiert. Nicht dafür ist er auf die Insel gekommen.
Wenn das die
Insel
ist, dann hat er verloren.
Er kauft sich eine Weißbrotstange und geht zum Meer hinunter. Mit dem Anblick des Strandes stellt die Insel seine Standhaftigkeit weiter auf die Probe: zerschlagene Flaschen, Hundekiefer, Rengeweihe, Fellreste, benagte Knochen, Ziegelsteine und rostiges Eisen, rostiges Eisen in Gestalt von Maschinenteilen, Fässern, Trossen oder auch ganz unvorstellbarer Art, etwa in Form von Fassreifen längst vermoderter Holzbottiche, die selbst schon nur noch aus Eisensalzen bestehen und aus dem Sand ragen wie fossile Skelette oder Schiffsgerippe …
Das vollkommen durchgerostete, orange gesprenkelte Wrack eines kleineren Schiffchens, mit weit gegen die Welt aufgerissenem, zähnefletschendem Maul. Wohl das, was von der
Kolgujewez
noch übrig war. Auf seine Art eine Denkwürdigkeit, von der er ein Foto machte. Da jaulte, seiner ansichtig geworden, ein scheckiger Hund bös und ängstlich los. Jaulte mit halb geschlossenen Augen, dieser unglückliche Bastard, den das in Geilheit vereinte Rudel seiner Auszehrung wegen ausgeschlossen hatte; in seinem hyänenartigen Rachen hallten Wahnsinn und Bosheit wider, seine Hinterläufe zitterten vor Angst, das Fell auf seinem Kreuz sträubte sich, und der eingezogene Schwanz bedeckte das nutzlos gewordene, eingeschrumpelte Glied, das seine stärkeren Artgenossen bestimmungsgemäß einzusetzen verstanden. Der Fliehende dachte, er halte es gleich nicht mehr aus, gleich zertrümmert er dieser Missgeburt mit einem dicken Kieselstein den Schädel …
Aus irgendeinem Grund rief die Insel in ihm dunkle, undurchdringliche Gefühle wach, forderte ein Mitschwingen mit dem, wovon sie erfüllt war. Die Insel, diese Insel, von der er so lange geträumt hatte, forderte die Exkarnation des Traumes. Sie forderte Mord im Gegenzug für das Recht, ihre besoffene Visage, ihr verfaultes Gebiss zu erschauen. Und es ging hier nicht um den erbärmlichen Köter, es ging um den Traum. Seinen Traum, der ihn so viele Jahre geleitet hatte.
Jedes Opfer war möglich, fand er, aber dieses – nein. Der Traum stand rein vor ihm. Der Traum war unschuldig.
Er beschloss, ihn weiter von den Menschen fortzutragen und durch irgendetwas zu bestärken. Das eigentliche Ende des Dorfes, den Anlegekai und einen Kohlehaufen, umrundend, ging er weiter am Meer entlang. Die Flut hatte schon eingesetzt. Manchmal strichen Regentropfen, die Fläche kräuselnd, über sie hin, manchmal, wenn ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke flammte, sah er im gelben Wasser einen Strudel heller, vom Grund hochgewirbelter Sandkörnchen. Sicher waren es diese Sandkörnchen, die jene Schlangenlinie zeichneten, mit der jede Welle ihr Auflaufen aufs Ufer markierte. Hier, jenseits des Dorfes, war der Strand so gut wie sauber, das Meer spülte die Spuren der Menschen fort, das Leben pulsierte unverändert in seinem ewigen Rhythmus. Die Wellen rollten heran und, mit leisem Scharren in den porigen Sand eindringend, davon; an Land zurück blieb nur, was dort zurückbleiben sollte: Steinchen, kleine Krebse, Klumpen braunen Torfs, der unter der unermüdlichen Erschütterung des Meeres von der Steilküste abgebrochen war. Unmittelbar am Fuß der Wand entdeckte er die Schale eines wunderschönen Wesens. Beinah hätte er es zertreten: von krebsartiger Gestalt, fingerlang; es gehörte zur Gattung der Isopoden, Mesidotea entomon, ein Kaventsmann von Meerassel; augenlos, aber mit Fühlern, der Chininschild war recht hart und hatte spitze Auskragungen an der Unterseite – als Schutz der Beinchen im Tiefseeleben dieses merkwürdigen Geschöpfs. Die Schale war leer, nur einige Sandkörnchen rieselten darin; vorsichtig wickelte er sie in ein Taschentuch, steckte sie ein. Genau in diesem Moment brach die Sonne durch die Wolkendecke – tauchte weit draußen auf dem Meer als blendend auffunkelnder Silberspiegel hervor, während sich am Himmel eine solche Parade schweren Gewölks formierte, dass er beinah laut aufgeschrien hätte vor Begeisterung.
Nein, man konnte sagen, was man wollte, er hatte die Insel trotz allem erreicht. Und die Barentssee gesehen!
Die im Flachwasser jagenden Möwen flogen, sobald er näherkam, eine nach der anderen mit spitzem Schrei auf. Aber offenbar war er kein gar zu gefährliches Wesen, denn sie machten jedesmal kehrt und ließen
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