Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
Vom Netzwerk:
wie Sie … Das heißt … Sie sind ja grade gekommen … Vielleicht haben Sie ihn gesehen?«
    »Von Angesicht kenne ich ihn nicht«, sagte der Fotograf unbekümmert.
    Wirklich verdammt gut ausgedacht: Fotograf. Soll sich der Direktor mal schön allein überlegen, was er jetzt mit ihm anstellt. Bloß ein bisschen schnell, denn … War doch schon Mittag, oder? Im Magen meldete sich ein dumpfer Schmerz. Der Grütztopf ruhte noch immer im Rucksack. Er hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Wenigstens einen Tee …
    Der Direktor hatte noch immer nicht zu Ende überlegt, was sich leicht an seinem edlen Gesicht ablesen ließ.
    »Wissen Sie«, half der Fotograf ihm auf die Sprünge, »es geht um eine Serie über zwei Künstler, die hier mal gelebt haben … Sie kennen sie bestimmt: Ada und Wolodja … Ich würde gern Leute treffen, die von den beiden gemalt worden sind, und die Tundra sehen …«
    »Die Tundra sehen?«
    »Ja …«
    Aha. Der Direktor ist ja nicht dumm. Er ist sogar klug. Er begreift, dass diese Geschichte mit den Künstlern, selbst wenn sie stimmt, Quatsch aus Moskau ist. Quatsch aus einer unverständlichen Welt, die für ihn nicht existiert. Aber der da, der ist hier. Ergo, was immer er ist – Fotograf, Kartograph, Geheimagent der Kreislandwirtschaftsverwaltung oder des internationalen KGB –, der Handlungsablauf ist unabänderlich:
    1) ihn im Hotel unterbringen;
    2) ihm Bezugsscheine aushändigen, damit er im Laden einkaufen kann;
    3) ihn seinem Wunsch entsprechend bei nächster Gelegenheit in die Tundra bringen.
    Von da an ist alles einfach. Wieder ein Hotel. Zwei leichenkalte Zimmer, acht mit schneeweißer Wäsche bezogene Betten. Der Fliehende ist der einzige Gast. In der Küche: einige zerdellte Kochtöpfe, eine Pfanne, ein Elektrokocher, ein leerer Wasserbehälter. Für seinen Tee muss er zurück zu dem Moorloch beim Hubschrauberlandeplatz und das Wasser mit einem Eimer aus der rostigen Tonne schöpfen. Als er eine Portion in seinen Pott gießt, sieht er in der Flüssigkeit kleine Lebewesen sich bewegen wie Brownsche Teilchen. Mit zunehmender Hitze flitzen sie schneller, aber schon wirds zu heiß, sie erstarren, bleichen aus, sinken zu Boden. Halb so wild, winzige Krebse, Hüpferlinge – aber jetzt beim ersten Mal kippt er den Bodensatz doch weg. Dann trinkt er seinen Tee, wärmt die Grütze auf und geht, gestärkt, wieder los.
    Und während des ganzen restlichen Tages offenbart sich ihm das Dorf Bugrino in dem Maße, in dem es Detail um Detail sein Leben enthüllt – kein erschreckendes, nein, sondern ein alltägliches, denn es ist ein gewöhnlicher Tag, ein Wochentag, ein Mittwoch, der 26. August 1992 – als eine sich immer weiter entfaltende, allumfassende Metapher der Vernachlässigung.
    Zugegeben, ein Tanker liegt auf Reede, auf dem Ufer ein Beiboot, Matrosen verkaufen hinterm Laden Wodka. Sauftag. Zerschlagenes Glas, eine gespaltene Augenbraue, ein Kerl mit blutüberströmtem Schädel, eine Frau, die »Schenja! Schenja!« schreit, zwei Körper, die in einer über den Abhang gekippten Spülichtlache ausrutschen und ineinanderverkeilt meerwärts kullern … Ein Greis gesellt sich zu den Matrosen, dreht die leeren Hände hin und her, röchelt, jault, dann reißt er sich den Mantel aus Schafspelz vom Leib, die wenden sich nur lachend und stirnrunzelnd von dieser erbärmlichen, verfilzten, nach samojedischem Schweiß stinkenden Beute ab …
    Vor dem Geschäft eine Schlange, demütig-starr der Öffnung entgegenharrend. Gleich daneben ein Rudel sich wechselseitig wegbeißender geiler Hunde, die nacheinander eine willfährige Hündin bespringen und ihr mit ruckartigen, soldatisch hastigen Bewegungen das vor Erregung zitternde, entblößte Glied in die mit geschlossenen Augen dargebotene Blume stoßen. Unweit davon fangen Kinder, von einem Fass zum nächsten hüpfend, in sumpfigem Gelände Blutegel. Als er seinen Fotoapparat hervorholt, laufen sie fort. Ein Mädchen bleibt, eine angeborene Kokettheit verstärkt noch ihre Neugier.
    »Wie heißt du?«
    »Mira.«
    Eines Tages wird er Mira erzählen, dass er es ihr allein verdankt, an diesem Tag nicht in Verzweiflung gestürzt zu sein. Sie hat als erste in seine Kamera geblickt, während alles, aber auch alles sich von ihm abwandte oder hinter Hässlichkeit verbarg, ihm nur Besoffene oder Krumme vor die Linse brachte. Ein Kerl lag kopfüber im Sumpf, das eine Ohr und der halbe Schädel im Wasser – knips ruhig, von mir aus so; siehst nicht alle Tage

Weitere Kostenlose Bücher