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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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grandiose Halluzination der vorherbstlichen Tundra, die vor dem Fenster mal einfach nur in allen erdenklichen Farbschattierungen pulsierte, mal sich plötzlich vor seinen Augen auf blätterte wie die Seiten eines gigantischen Buchs der Symbole, wie ein Körper der Symbole, dem alle jemals zu profanen oder sakralen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecken von der Menschheit ersonnenen Zeichen eintätowiert sind. Er sah einen Raum, hier gefärbt wie eine Perleidechsenhaut (dunkelgrün mit goldenen Sandkörnchen und Einsprengseln von Blau, Gelb, Smaragdgrün), dort marmoriert wie eine Wechselkröte (von der charakteristischen beigefarbenen Äderung durchzogene bräunlichgrüne Inselflecken) oder koloriert wie ein Feuersalamander (Gelb auf Schwarz), dann wieder Wölbungen, die an Schildkrötenpanzer erinnerten. Er sah Flüsse, die sich schlangengleich wanden, und Flüsse, die sich baumartig verzweigten, sah ungeheuergestaltige Seen und Seen, die gigantischen Sicheln, die Kelchen, die Augen glichen, Seen von der Farbe alter Rüstungen oder matt gewordener Spiegel, Seen, ausufernd wie der Himmel, und rotbraune Seen mit trübem, lichtlosem Wasser, sah unter sich Kreise, kreisförmig angeordnete Kreise, zu einer einzigen Kette verbundene Ringe, sah Linien, Kreuze, Quadrate, Pentaeder, Oktaeder und andere, dem Auge gänzlich ungewohnte Formen und Farbkompositionen – als betrachte er im Mikroskop den Schnitt durch eine Pflanze oder beobachte im Gegenteil durchs Teleskop die Oberfläche eines anderen Planeten …
    Das Erstaunliche war, dass in diesem großartigen Katalog alle erdenklichen Formen vorkamen, der Mensch hätte nichts zu ersinnen brauchen; Kandinsky hätte seine Äußerungen über die Explosion, aus der Kunst und Farbe sich entwickelten, nicht zu schreiben brauchen, er hätte sich nicht verbalen Ausschweifungen hinzugeben und nicht mit dem Pinsel auszuschweifen brauchen – aber er war eben nicht im Hubschrauber über die herbstliche Tundra geflogen, die aus tauben Sümpfen und verwelkendem Moos einen Überschwang an Farbe erschafft …
    Die Wüste rückte heran. Zunächst Kuppen mit windgeschleiften Gipfeln oder tiefen Trichtern, beinah schon Kratern, klaffend wie nicht verheilende, tödliche Wunden; dann Wellen aus Sand, trügerisch in ihrem Lauf erstarrt, Meereswellen gleichend; Wasser funkelte überall wie Glimmersplitter … Der Fliehende spürte plötzlich, dass dies das Ende war, finis terrae, Landsende, weiter ging es nicht, als müsste gleich etwas zerbersten und sie würden
dahinter
stürzen.
    Aber gerade da begann der Hubschrauber tiefer zu gehen. Anfangs kam es ihm vor wie ein Kamerazoom, denn plötzlich konnte er da unten einen Leuchtturm ausmachen und ein graues zweigeschossiges Haus, vom Wind angenagt, und ringsumher in die Tundra verstreute Treibstofffässer, dann Menschen, die auf den Hubschrauber zurannten; Sand peitschte erbarmungslos auf sie ein, hochgewirbelt von den messergleich blinkenden Rotorblättern: die Frauen kehrten den Sandböen den Rücken zu, stellten die Kragen auf, die Kinder versteckten sich hinter schwankenden, pfeifenden Fässern …
    Hatte der Hubschrauber mit den Kufen den Boden berührt? Der Kopilot riss einfach die Tür auf und starrte in den Passagierraum. Da griff der Mann im Gummimantel nach seinem Sack, arbeitete sich vor zur Tür, sprang. Im nächsten Moment stieg der Hubschrauber wieder auf, der sich zusammenballende Wirbel erfasste den Mann ein letztes Mal: Gummimantel, Sack, Gesicht, Haare – alles wurde seitwärts gesogen, legte sich schräg, war schon im nächsten Moment dem Blick entzogen. Von da an – Erde/Wasser, Erde/Wasser und der Rand: die Wellen, frei und ungebunden, die blau sich an einem graufunkelnden massigen Sandstreifen brachen. Und wäre da nicht die rätselhafte Leere dieses Strandes gewesen, diese verdächtige Leere, und der eine oder andere angespülte Baumstamm, wer hätte nicht ohne weiteres geglaubt, dass hier Miami Beach sei oder wie immer sich die endlosen glücklichen Küsten der warmen Ozeane nennen, wo es heißen Sand und schwindelerregend viele Frauen mit kaffeebrauner Haut gibt?
    Das wär geschafft, konnte er bloß noch denken. Wobei »Erleichterung« beileibe nicht reichte für das, was er empfand. Er fühlte sich gerettet, weil dieser Mann im Gummimantel nicht mehr mit ihm flog. Der Eingang zur Hölle lag also näher als jene Grenze, der er zustrebte, und wenn er später viele Male die Landkarte studierte, um herauszufinden,

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