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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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wo genau, und wenn er dann aus verständlichen Gründen den
Nord
verwarf, stieß er jedes Mal auf das Sternchen des Leuchtturms von Chodowricha auf dem Kap Russki Saworot, das zusammen mit den Guljajewskie Koschki die Petschoramündung vom Meer abtrennt. Der Leuchtturm war auf der Karte als unbemannt verzeichnet, aber das konnte nicht sein: Ein Leuchtturm, der im tödlichen Flachwasser einer bleischweren See stand, konnte nicht wärterlos sein; und dann waren da noch diese Menschen, das waren doch keine Geister, die er da mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern Frauen und Kinder, vom Willen einer unglaublichen Schicksalspatience in die kalte, salzgetränkte Wüste am Rand der Welt geworfen. Aber wie folglich sagen, wer der seltsame Passagier war: tatsächlich ein Höllenbewohner, als der er dem Fliehenden in seiner Angst erschienen war, oder ein Hüter des Feuers, ein unsterblicher Lichtbringer, der Vater eines Klans oder Bezwinger eines schrecklichen Wahnsinns, der ihn überrollt wie die Wellen das Ufer? Der Mal um Mal sich wie eine Kugel noch eine volle Flasche Wodka in den Leib brennt und dennoch am Leben bleibt.
    Jedes Mal am Leben bleibt.
    Und diese Verzweiflungsunbekümmertheit, die sich seinen Gesichtszügen eingeschrieben hatte, war sie nicht der Preis? Der Preis für eine dem Fliehenden bekannte Erfahrung, der Preis für den bis zum Ende beschrittenen Weg?
    Die Fragen vermochten nicht, sich bis zu einem bedrohlichen Grad auszuwachsen, denn er konnte kaum richtig »Das wär geschafft« denken und dabei die in einem Dämmerzustand versunkenen Passagiere betrachten, als der Hubschrauber wieder an Höhe verlor; er sah eine zerklüftete Küste auf sich zukommen, drei Häuserreihen direkt am Meer und wassergefüllte Geländefahrzeugspuren, die die Tundra hinter der Siedlung kerbten; aus irgendeinem Grund begriff er sofort, dass er hier erblickte, wohin er so lange gewollt hatte.
    Die Insel.
    Da er ganz hinten saß, erwartete er nicht, mit der Insel vor denjenigen in Berührung zu kommen, die in der Nähe der Tür gesessen hatten, vor der sie sich jetzt drängelten und schon mit den draußen Stehenden sprachen. Aber da klackte hinter ihm etwas und die Gepäckraumluke ging auf, sein Rucksack rutschte in die Tiefe, und er sprang kurzerhand hinterher. Menschen drängten sich auf dem Landeplatz, einem Bohlenboden unmittelbar auf moorigem Grund, in dessen Mitte der Hubschrauber stand. Der Geruch von morastigem Wasser und verwesenden Pflanzen wollte sich eben in der Nase breitmachen, da wehte ihn ein kalter Windstoß davon. Auf ihn wartete niemand, und so bemerkte ihn auch niemand.
    Er nahm seinen Rucksack und ging los; ging, sicheren Schritts, als wisse er wohin, den anderen hinterher. Über Bretter an einer rostigen Zisterne mit Wellblechrohr und Pumpe vorbei. Das Wasser wurde aus einem Moorloch heraufgeholt. Über das Rohr musste man hinwegsteigen, aber das hatte sichtbar einen Riss, und der Strahl gelben Wassers, der daraus hervorschoss, glich dem eines Schlingels, der seinen Strahl mutwillig verteilt. Er versuchte auszuweichen, aber Fehlanzeige: Entweder hatte der Wasserdruck zugenommen oder eine Windböe den Strahl abgelenkt, jedenfalls wurde sein Hosenbein benässt. Was solls, dachte er, zum Glück die Hose, nicht das Gesicht, da wär ich jetzt ganz schön angepinkelt …
    Irgendwie gruben sich ihm diese ersten Momente mit absoluter Genauigkeit ein. Die Gedanken und Worte drückten sich in seinem Gedächtnis ab wie auf Papier, und das Gesehene glich einer Reihe von Aufnahmen, von denen manche wie bei Schnipseln von Kinofilmen Bewegung und Ton enthielten, doch die meisten waren eingefroren und stumm wie Standfotos. Filmschnipsel gab es sechs, die alle in den ersten rund 180 Sekunden auf dem Weg in die Siedlung entstanden, weshalb diese für ihn immer die sukzessive Entfaltung ein und derselben Bilderfolge blieb.
    1) Linkerhand: besagtes Rohr mit der Pissfontäne, die glucksende Pumpe und, in einer Schlucht, ein Moorloch, darin: das halb versunkene Gerippe eines Geländefahrzeugs und einige rostige Fässer; jenseits der Schlucht: zwei Baracken, ein Hund, angeleint, kläffend; vier Betrunkene, wankend, schwarz …
    2) Rechterhand: ein Geländefahrzeug … Anscheinend kein Gerippe, sondern intakt, aber der zweite Blick verriet vollkommene, tödliche Bewegungslosigkeit: Scheinwerfer und Kabinenfenster waren kaputt, an den Seiten hatte mit herrischer Dreistigkeit Rost angesetzt, und … Ja, keine Fahrspuren. Noch war

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