Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
sich wieder auf dem Wasser nieder, die Köpfe Richtung Ufer ausgerichtet, abwartend. Bestimmt mündet dort ein Bach oder Fluss, vermutete er. Mit jedem Schritt kehrte Ruhe in ihn zurück. Die Möwen im Flachwasser, die scharrenden Wellen und ihre Zeichnungen im Sand, die majestätisch sich über der See ballenden Wolken, von ihrem Anbeginn an in unablässiger Bewegung, einer Bewegung, die dermaßen der Bewegungslosigkeit gleicht …
Ein Schiff.
Er hatte es schon von weitem bemerkt: ein scharfer dunkelgrauer Schattenriss in der Ferne, in seiner Gänze, vom Heck bis zum Bug, gut erkennbar und mit seiner Linie einen unbezwingbaren Fahrtwillen unterstreichend. Gleichzeitig jedoch lag es reglos da, offenbar vor Anker. Er war weiter den Strand entlang auf das Schiff zu gelaufen. Jetzt, nach vielleicht drei Kilometern, konnte er es besser erkennen: ein echter großer Hochseefrachter. Er hegte nicht gleich den Verdacht, dass mit ihm etwas nicht stimmte, aber während er das Meer betrachtete, das bei jedem Regenschauer sich in ein einheitliches Grau verwandelte und bei Sonne unablässig die Farbe wechselte, mal ins Gelbliche, mal ins Grünliche spielend, und sein Auge immer mehr von diesem unheilkündenden Tanker mit dem weißen Heckauf bau, dem orangefarbenen Rettungsboot und der punktartigen Flagge am Mast ausmachen konnte, desto mehr verwunderte ihn, dass das Schiff seine Farbe überhaupt nicht wechselte. Außerdem, da war keine Flagge. Auch keine Beiboote und keine Taue. Nur der Schiffskörper, über dem Vögel kreisten – ein Körper von seltsamer dunkler Farbe, als sei der Tanker aus Erde gebaut. Und erst, als die Sonne plötzlich den Schiffskörper erfasste und er die mit nichts zu vergleichende Farbe des Rostes erkannte, an die sein Auge sich im Lauf des heutigen Tages gewöhnt hatte, und er die leeren Bullaugen ausmachte, begriff er, was los war: Es handelte sich um ein totes Schiff, vorzeiten von den Menschen verlassen, vorzeiten offenbar schon in eine Sandbank eingewachsen, das nur noch den Vögeln zur Zuflucht diente, und dem Wind, der in allen Tonarten in seinem zerschundenen Leib heulte.
Ein weiterer Kadaver.
Vom Dorf ging eindeutig ein leiser Geruch nach Tod aus. Und als er auf der Höhe der Möwenbarre tatsächlich durch kleine Flüsschen watete und dann das Ufer, wo er ein kuhstallartiges Gebäude entdeckt hatte, erklomm, da erblickte er als Erstes eine phantastische Maschinerie, die einem aus Eisen zusammengeschweißten Taubenhaus ähnlich sah und dort an der Küste vielleicht nur stand (beziehungsweise lag), um genau an diesem Tag genau ihm das Urteil zu verkünden, das auf der eisernen Flanke in weißer Farbe geschrieben stand: »Bugrino – Schlachtplatz«.
Die Umstände gesellen sich oft der Stimmung hinzu, aber ein so unverblümtes Schreckbild vermochte ihn nun nicht zu ängstigen, es hatte eher etwas Belustigendes. Er nahm den Fotoapparat zur Hand – einfach, damit später niemand sagen konnte, er habe das alles erfunden. Letztendlich barg die Inschrift – eine Adresse für die Warenanlieferung – ja absolut nichts Erschreckendes. Aber der Kuhstall war wohl offenbar kein gar so unschuldiges Gebäude. Das Tor war verschlossen. Der Wind zerrte an einem von der Wand gelösten Wellblechstück, unter dem Glaswolle hervorquoll, er winselte und jammerte in den mit zerzausten Dämmstoffstreifen umwickelten Heizungsrohren (o Winterstürme, die ihr mitunter tief am Boden fegt und auf den nördlichen Sandbänken der Welt die menschengemachten Ecken und Kanten schmirgelt!), er trug, der Wind, einen süßlichen Geruch nach Tod heran. Der musste sich hier irgendwo in der Nähe verstecken. Er ging dem Geruch nach und stieß plötzlich auf eine Schlucht, die bis obenhin mit Rentierschädeln angefüllt war.
Auch daran war eigentlich nichts Erschreckendes. Aber
alle Schädel waren zertrümmert
. Nicht durchschossen, sondern regelrecht zertrümmert, entzweigehauen, zerschunden. Er sah zerschlagene Nasen, zersplitterte Kiefer, zerstückelte Geweihe: Ehe diese Lebewesen starben, waren sie einer grausamen Folter ausgesetzt – wahrscheinlich in eben diesem Kuhstall da, hinter dessen verschlossenem Tor wie ein Märchendrache das Böse auf die Stunde seines Triumphs wartete. Das Böse, das sich hier als Herr fühlte.
Er fotografierte die Schädel nicht, die bezeugten, dass das Böse triumphiert hatte. Er wollte diesen Sieg durch nichts bekräftigen. Vielleicht war das dumm, aber er wollte die Insel seines Traums
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