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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Golowanow
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das Vehikel nicht in den Erdboden eingewachsen, aber Wurzeln geschlagen hatte es schon, unter den Raupen hatte sich schon Gras bis zwischen die Kettenglieder hervorgearbeitet. Hinter dem Geländefahrzeug stand inmitten von gelbem Sumpfgras ein gelecktes, von Masten umgebenes Häuschen, die mit Abspanndrähten fixiert waren, gefolgt von einem imposanten, zwei- oder dreigeschossigen Holzbau, gewiss das Verwaltungsgebäude.
    3) Geradeaus: ein erfreulicher Anblick. Eine die Schlucht überspannende Brücke, darauf einige Menschen; und jenseits, auf einer grünen Anhöhe, ein solides graues Holzhaus vom Archangelsker Typ, wo rückwärtig etwas Rotes im Wind flatterte. Wäsche: weiß und rot, vor einem von gleißendem Funkeln übertanzten blauen Hintergrund. Das Meer.
    Nach dieser dritten Bildsequenz fragte er einen der Dörfler, die neben ihm unterwegs waren, nach dem Hotel.
    »Da drüben«, kam die freundliche Antwort mit einer Geste auf das nächststehende Haus, es war ebenerdig und mit rostroter Schiffsfarbe gestrichen.
    Tja, so nah also, dachte er.
    4) Das Hotel (geradeaus halbrechts): ebenfalls auf der anderen Seite der Schlucht, neben dem grauen Haus, auf derselben Anhöhe oberhalb des Meeres, am besten Fleck. Vielleicht zwanzig Schritt vom Steilufer. Na, dreißig. Abends würde er hingehen und schauen …
    Da kam von irgendwoher ein Schrei. Ein wilder Schrei eines wilden Wesens, das sein Opfer ausgemacht hatte.
    »He?«
    Bitte nicht ich, stöhnte, sich wegduckend, eine innere Stimme.
    Doch, doch, du, unterbrach eine andere sie gleichmütig.
    Er beschleunigte seinen Schritt nicht und drehte sich nicht um, auch nicht beim zweiten »He!« Sein Verstand arbeitete präzis: Klar, die vier von drüben. Voll bis obenhin. Nicht mehr die Jüngsten. Außerstande zu rennen.
    Doch da hörte er schwerfällige Laufschritte auf dem Brückenbelag, näherkommend; er drehte sich um und erblickte:
    5) Einen Mann, der von drüben angerannt kam, in abgerissener Wattejacke, das unter einer schwarzen Strickmütze hervorschauende lange Haar klebte ihm an der feuchten, dunkelbraunen Stirn.
    »Warte, warte«, krächzte der Mann im Näherkommen; zuletzt schob er sein einer klaffenden Wunde gleichendes Gesicht beinah Haut an Haut an das des Fliehenden heran, »du hast bestimmt was Trinkbares dabei?«
    Das Gesicht. Hätte ihn letzte Woche ein Mensch mit einem solchen Gesicht bedrängt, das bis zum Äußersten Frage und Forderung, Begehren und Qual, diffuse Drohung und Demut ausdrückte und zugleich von innen durch ein wütendes Feuer erhellt wurde, er hätte sich gewiss zu Tode erschreckt, denn dort, in seiner Welt, konnte ein solches Gesicht nur einem Geisteskranken gehören. Zugleich aber war dieses Gesicht nicht mehr und nicht weniger abgenutzt, runzlig, dunkel und asymmetrisch als alle anderen Gesichter hier, von denen er kürzlich noch gesagt hätte, er habe derartige Physiognomien bislang
nie
gesehen. Anscheinend war er zu weit von zu Hause fort, denn diese Physiognomien wurden immer häufiger. Unter ihnen war sein Gesicht, das trotz mancher Reisebeschwerlichkeit seine ganze hauptstädtische Glätte bewahrt hatte, eine Schamlosigkeit, fast eine Herausforderung. Natürlich hatten sie ihn gleich herausgepickt. Damit hatte er sich wohl abzufinden. Aber er musste – so Korepanows Rat – dem Kerl sagen, dass er keinen Wodka dabeihatte.
    »Nein«, sagte der Fliehende fest. »Ich habe nichts.«
    »Doch, bestimmt«, beharrte der andere überzeugt.
    »Nein, Bruder, ich hab keinen Wodka.« Der Fliehende blieb stur und schaute direkt in dieses Trinkergesicht, das mit seiner ganzen alkoholseligen Hässlichkeit vor ihm hin und her wankte. »Zigaretten hab ich. Willst du was zu rauchen?«
    Der Betrunkene brabbelte etwas, anscheinend erreichte ihn die Frage nicht.
    »Tut mir leid, aber ich belüg dich nicht. Weshalb sollte ich?«, half ihm der Fliehende auf die Sprünge.
    »Stimmt, weshalb«, pflichtete der Betrunkene ihm bei, lachte auf, nahm eine Zigarette und wankte schlurfend davon.
    Darauf machte der Fliehende eine 180-Grad-Wende und erblickte:
    6) Die Siedlung. Die sich oberhalb des Meeres hinziehende Dorfstraße mit aufgebrochenem, unter den Füßen schwankendem Belag; torkelige Leitungsmaste, von denen nicht einer senkrecht stand, vielmehr jeder auf die eine oder andere Weise dem Schiefen Turm von Pisa nacheiferte und je nach Geländeneigung die Drähte bald zum Reißen spannte, bald durchhängen ließ. Das Meer befand sich unten links. Dort

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