Die Insel - Roman
verzichten?
Langsam ließ ich meinen Blick über die Lagune wandern.
Das Wasser war tiefschwarz außer an den Stellen, auf denen das Mondlicht glitzerte, aber es war keine abschreckende Schwärze.
Im Gegenteil. Ich konnte es kaum abwarten, in dieses Wasser zu steigen, aber ich rief mir in Erinnerung, dass ich nicht zum Schwimmen hergekommen war, sondern um die Frauen zu suchen.
Und zwar auf der anderen Seite der Lagune, ein ganzes Stück den Bach entlang oberhalb des Wasserfalls, wo ich sie zuletzt gesehen hatte.
Um dorthin zu gelangen, musste ich die Lagune durchqueren.
Ich richtete mich auf und sah mich um. Nirgends war ein Feuerschein oder irgendetwas anderes zu entdecken, das auf die Anwesenheit von Menschen hätte schließen lassen. Außer dem üblichen Gekreische und Gequieke aus dem Dschungel (von wem auch immer es kommen mochte) sowie dem leisen Plätschern des Wasserfalls auf der anderen Seite der Lagune waren nur die Geräusche von Vögeln und Insekten zu hören.
Ich freute mich auf den Wasserfall, sehnte mich danach, nackt unter ihm zu stehen und mir in dieser warmen Nacht das Wasser auf den Kopf prasseln zu lassen.
Also zog ich die Shorts aus und legte sie auf einen flachen Felsen in Ufernähe. Dann fiel mir das Rasiermesser ein, das in einer der Taschen steckte und das ich nicht zurücklassen wollte.
Was, wenn es mir jemand stahl? Was, wenn mir Wesley oder Thelma über den Weg liefen? Wie sollte ich mich ohne eine Waffe gegen sie verteidigen?
Nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, zog ich mir den rechten Socken wieder an und steckte das Rasiermesser hinein. Genauso hatte ich Andrews Schweizer Messer mit auf den Baum genommen, um Keiths Leiche abzuschneiden. Mir fiel plötzlich ein, dass das jetzt mehr als eine Woche her war, aber es kam mir so vor, als wäre es erst gestern geschehen. Ich glaubte, noch die raue Rinde des Baumes an meinem Körper zu spüren und Keith vor mir zu sehen, wie er da mit schiefem Kopf an seinem Seil baumelte …
»Denk nicht dran«, sagte ich, und obwohl es nur geflüstert war, machte der Klang meiner Stimme mich nervös.
Wer außer mir hatte sie vielleicht noch gehört?
Ich richtete mich auf und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Auf einmal fühlte ich mich hier am Ufer der Lagune ungeschützt und verwundbar. Ich stellte mir vor, dass irgendwo in der Dunkelheit jemand lauerte, der mich beobachte und sich langsam näher schlich.
So schnell ich konnte, kletterte ich von dem Felsen hinunter ins Wasser und watete hinaus in die Lagune. Rasch waren meine Beine verschwunden, und kurze Zeit später sah ich aus, als hätte mich ein Zauberer oberhalb der Taille abgesägt.
Sofort fühlte ich mich sicherer.
Auf diese Weise konnte ich jederzeit auch ganz verschwinden.
Meine verkrampften Muskeln entspannten sich, und eine angenehme Wärme breitete sich in meinem ganzen Körper aus.
Je tiefer das Wasser wurde, desto besser fühlte ich mich. Als es mir bis zum Hals reichte, wusste ich, dass man mich vom Ufer aus nur noch schwer würde erkennen können.
Ich war praktisch unsichtbar geworden.
Falls mir überhaupt jemand zusah, konnte er nur noch meinen Kopf sehen.
Ich tauchte unter, und jetzt fühlte ich mich unbesiegbar. Mochten im Dschungel da draußen auch noch so gefährliche Feinde auf mich lauern, hier im warmen, dunklen Wasser war ich vollkommen sicher vor ihnen. Hier konnten sie mir nichts anhaben.
Ich holte noch einmal tief Luft, tauchte wieder unter und schwamm mit ruhigen, kräftigen Zügen unter Wasser auf den Wasserfall zu. Obwohl mir nach einer Weile die Lunge wehtat, tauchte ich erst auf, als ich unter ihm hindurch war und durch seinen Schleier vor Blicken vom Ufer aus geschützt war.
Hinter dem Vorhang aus Wasser war der Boden der Lagune felsig und bot mir guten Halt. Ich trat einen Schritt nach vorn und hielt den Kopf unter das herunterströmende Wasser, das mir warm über Gesicht und Körper lief.
Jetzt war ich nicht mehr unsichtbar.
Trotzdem hatte ich keine Angst - vielleicht deshalb, weil es ein Leichtes war, wieder hinter dem Wasserfall zu verschwinden.
Ich merkte, dass ich am ganzen Körper zitterte, aber nicht vor Angst oder Kälte, sondern vor Aufregung. Während ich so nackt unter dem Wasserfall stand und seinem Plätschern und Brodeln lauschte, fühlte ich mich mutig
und stark und es machte mir überhaupt nichts mehr aus, dass ich jetzt vom Ufer der Lagune aus klar und deutlich zu sehen war.
Wie anders hatte ich mich doch das letzte
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