Die Insel - Roman
hat sie dich fast großgezogen.«
»Ach, hör doch damit auf …«
»Wegen dir ist sie zu Hause geblieben, anstatt woanders aufs College zu gehen.«
»Das habe ich nie von ihr verlangt.«
»Nein, aber sie hat es freiwillig getan.«
»Ja, weil es ihr Spaß gemacht hat, mich unter der Fuchtel zu halten.«
Ich konnte nicht anders, ich musste die Frage stellen. »Warum ist Kimberly denn nicht aufs College gegangen?«
»Weil sie bei ihrer Familie bleiben wollte«, erklärte Billie. »Sie hat es zwar nie so klar gesagt, aber das war meiner Meinung nach der Grund. Am Geld ist es jedenfalls nicht gescheitert, wir hätten es uns leisten können, sie auf jedes College zu schicken, und die Noten dazu hatte sie auch. Ich glaube wirklich, dass sie fast ausschließlich wegen Connie geblieben ist.«
»Alles meine Schuld«, sagte Connie und hob die Hand.
»Nein, natürlich nicht. Du warst damals erst elf oder zwölf Jahre alt. Als Kimberly in deinem Alter - oder ein, zwei Jahre älter - war, ging Thelma von zu Hause fort aufs College. Kimberly hat Thelma wahnsinnig gern gehabt und sehr darunter gelitten.« Billie wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Sie konnte dir das einfach nicht … antun. Ihr
beide habt euch so nahe gestanden. Sie wusste, wie sehr du sie vermissen würdest.«
Jetzt wurden auch Connies Augen feucht. »Dann ist es also doch meine Schuld.«
»Sei nicht albern. Sie hat dich geliebt, das ist alles. Und sie wollte dich nicht allein lassen, ohne größere Schwester. Wenn sie fort aufs College gegangen wäre, hätte sie dich vermisst. Sehr sogar.« Billie sah mich an und fuhr sich noch einmal mit dem Handrücken über die Augen. »Das ist der Grund«, sagte sie.
Alles, was ich herausbrachte, war ein mattes »Ach so.«
Billie hörte auf zu weinen, aber Connie heulte noch ein paar Minuten lang weiter. Als auch sie damit fertig war, rieb sie sich die Augen und sagte: »Ich glaube immer noch nicht, dass Kimberly unsere Hilfe braucht, aber wenn ihr wollt, dann gehe ich mit. Was bleibt mir auch anderes übrig? Ich hoffe nur, dass wir ihr nicht schon wieder die Tour vermasseln.«
Seltsam war, dass Connie nach all ihrem Gemecker sogar die Führung übernahm.
Offenbar hatte sie sich das, was Billie ihr gesagt hatte, doch zu Herzen genommen und sah Kimberly jetzt nicht mehr ausschließlich als die ältere Halbschwester an, die nur deshalb auf der Welt war, um sie zu ärgern, herumzukommandieren und ihren Freunden den Kopf zu verdrehen. Auf einmal schien selbst sie es sehr eilig zu haben.
Während sie uns am Bach entlang in den Dschungel führte, kam es mir so vor, als ob sie wie durch Zauberei plötzlich all ihre Egozentrik abgestreift hätte. Alles, was jetzt für sie zu zählen schien, war das Band zwischen ihr und Kimberly.
Für kurze Augenblicke konnte sie manchmal wunderbar menschlich sein.
Ich kannte sie und wusste, dass das nie lange anhielt, aber trotzdem ertappte ich mich dabei, dass ich sie auf einmal wieder mochte.
Ihren Körper hatte ich ja schon die ganze Zeit über gemocht - vom Kinn abwärts war sie vollkommen in Ordnung. Auch ihr Gesicht war nicht hässlich, aber ihr Hirn braute ständig irgendwelche nervtötenden Gedanken zusammen, und ihr Mund sprach sie aus. Ihre Worte und ihre Gedanken waren das, was ich an ihr nicht mochte. Und natürlich die Taten, die auf diesen Gedanken basierten.
Als Connie uns an jenem Tag durch den Dschungel führte, war das anders. Da mochte ich alles an ihr.
Und sie blieb sogar so.
Weil sie keine Chance mehr hatte, wieder in ihr altes Selbst zurückzufallen.
Die selbstgefällige, egozentrische, nervtötende und aufdringliche Ziege war für immer von der Bühne abgetreten.
Irgendwie wünschte ich fast, sie hätte sich in ihren letzten paar Stunden nicht in einen fürsorglichen, anständigen Menschen verwandelt, denn dann würde sie mir jetzt vielleicht nicht so fehlen. Andererseits ist es eine gute - nein, eine wunderbare - Sache, dass sie nicht bis an ihr Ende eine Nervensäge blieb.
Mein Gott, wie sehr sie mir fehlt!
Sie fehlt mir fast mehr als Billie und Kimberly.
Nein, das stimmt nicht. Was mache ich mir eigentlich vor?
Connie fehlt mir sehr, aber Billie und Kimberly vermisse ich noch mehr. Der Gedanke, dass ich sie vielleicht nie wieder sehen werde, ist mir unerträglich.
Aber was mache ich?
Ich sitze hier und schreibe in mein Tagebuch, anstatt nach ihnen zu suchen.
Warum nur?
Ganz einfach. Wenn ich nach ihnen suche, bringt man mich
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