Die Insel - Roman
das, was Wesley braucht. Also habe ich mich hier erst mal eine Weile umgesehen, und dann bin ich da hinaufgestiegen.« Sie deutete auf einen hohen Felshaufen, der nicht allzu weit vor uns lag.
»Dann bist du wohl schon ziemlich lange hier«, sagte Billie.
»Ja, ich habe mich beeilt. Ich wusste ja, dass ihr mich früher oder später suchen würdet, und bis dahin wollte ich Wesley unbedingt gefunden haben. Schließlich ging ich davon aus, dass er noch am Leben wäre.«
»Genau das haben wir befürchtet«, sagte Connie. »Deshalb sind wir so schnell wie möglich hergekommen.«
»Warum habt ihr dann so lange gebraucht?«
»Weil wir um die Lagune herumgehen mussten«, erklärte ich. »Mit der Axt konnte ich nicht schwimmen.«
»Besser spät als gar nicht.« Kimberly lächelte. »Ich bin jedenfalls froh, dass ihr hier seid.« Sie wirkte ziemlich fröhlich. »Von da oben habe ich etwas entdeckt, das wie ein rotes Höschen aussah. Ich dachte, es könnte vielleicht von Thelma sein und bin hingegangen, um es mir genauer anzusehen. Es lag direkt am Rand einer kleinen Schlucht, und in der habe ich dann Wesley entdeckt. Ich konnte es erst gar nicht fassen.«
»Und du bist sicher, dass er tot ist?«, fragte ich.
»Das nehme ich doch an. Aber ihr werdet ihn gleich selber sehen.«
»Dann müssen wir jetzt also nur noch mit Thelma fertig werden«, sagte Connie und sah sich nervös um. Offenbar befürchtete sie, dass ihre Halbschwester sich irgendwo versteckt hielt.
»Mach dir keine Sorgen wegen ihr«, sagte Billie. »Sie ist alleine und wird uns bestimmt nicht alle vier auf einmal angreifen.«
»Der traue ich alles zu«, meinte Kimberly. »Anscheinend hat sie uns doch die Wahrheit gesagt. Wesleys Schädel sieht jedenfalls so aus, als hätte ihn jemand eingeschlagen. Allerdings kapiere ich dann nicht, weshalb sie Rupert mit dem Rasiermesser angegriffen hat. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass Wesley ihr den Auftrag dazu gegeben hat. Aber das kann ja wohl nicht stimmen.«
»Dann muss sie einen anderen Grund dafür gehabt haben«, meinte Billie.
»Vielleicht hat Rupert an ihr herumgefummelt«, mutmaßte Connie.
»Niemals!«, stieß ich hervor und wurde rot dabei.
Connie grinste mich dreckig an. »Sie ist nicht dein Typ, stimmt’s?«
»Nicht mal annähernd.«
»Aber irgendeinen Grund muss sie gehabt haben«, sagte Billie und runzelte nachdenklich die Stirn.
Kimberly lächelte. »Dann fragen wir sie doch einfach, wenn sie wieder bei uns auftaucht.«
»Darauf könnte ich verzichten«, sagte ich. »Wenn ich sie überhaupt jemals wieder sehen muss, dann bitte nicht allzu bald.«
»Die wird kommen, verlass dich drauf.«
»Warum bist du dir so sicher?«
»Weil du ihr Rasiermesser hast.« Als Kimberly das sagte, lächelte sie mich strahlend an, und in mir breitete sich plötzlich das beglückende Gefühl aus, dass alles wieder gut werden würde.
Mein Gott, was würde ich dafür geben, noch einmal dieses Lächeln auf ihrem Gesicht sehen zu können.
Vorbei. Für immer.
Ich weiß, ich sollte das nicht sagen. Sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Nicht, bis ich ihre Leiche mit eigenen Augen gesehen habe. Und selbst dann wäre ich mir nicht ganz sicher.
Praktisch nichts auf dieser Insel ist so, wie es den Anschein hat.
Aber ich bin schon wieder abgeschweift. Vielleicht, weil ich hinausschieben will, was kommt. Aber ich muss es endlich einmal hinschreiben, und wenn es mir auch noch so schwer fällt.
Unser Waterloo
Schließlich erreichten wir die Schlucht.
Vielleicht ist »Schlucht« nicht das richtige Wort - der Grand Canyon jedenfalls war sie nicht, eher ein langer, schmaler Spalt zwischen zwei Felsformationen. Ich schätze mal, sie war etwa zehn Meter lang und an der Stelle, an der wir uns ihr näherten, zwei bis zweieinhalb Meter breit. An einem Ende lief sie spitz zusammen, am anderen war sie offen und fiel steil nach unten ab.
Kimberly legte Speer und Tomahawk auf den Boden und trat an den Rand der Schlucht. Sie beugte den Oberkörper nach vorne und sah hinunter.
Wir anderen blieben zurück.
»Ist er da unten?«, fragte Connie.
»Ja. Komm und schau ihn dir an.«
»Ich glaube dir auch so.«
Kimberly richtete sich auf und sah uns über die Schulter an. »Will ihn denn keiner von euch sehen?«
Ich hob die Hand.
»Dann komm her.«
»Ich halte inzwischen die Axt«, bot Billie an. Ich gab sie ihr.
Dann zwang ich mich, an die Felsspalte heranzutreten. Eigentlich wollte ich nicht noch einen Toten anschauen.
Weitere Kostenlose Bücher