Die Inseln des Ruhms 01 - Die Wissende
wieder auf den Rücken und blickte zu dem Mast hin, der im Zwielicht, das der Morgendämmerung voranging, nur schwach zu erkennen war. Ein Vogel saß auf der Querstange; ein Wesen, das zu klein war, um zu den gewöhnlichen Seevögeln gehören zu können. Ich beäugte ihn unsicher; er kam mir vor wie der Vogel von Flamme. Ich fragte mich, wie lange er da wohl schon hockte. Er legte den Kopf schief, und plötzlich kam ich mir sehr nackt vor. Ich zog die Decke über den Kopf. » Verschwinde«, sagte ich. » Flieg weg und sage ihr, dass es mir gut geht.«
Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geschworen, dass er gelacht hatte, als er wegflog.
Thor tauchte auf. Sein Gesicht war immer noch eine Maske, aber seine Stimme war eine Mischung aus Neugier und Erheiterung. » Sprichst du immer mit Vögeln?«
» Nein. Nur mit manchen. Was seltsam ist … sie scheinen mich zu verstehen. Manchmal. Thor?«
» Ja, mein Herz?«
Gott, was für einen Schauder diese Worte auslösten! » Wer bist du?«
» Ein Wanderer ohne besondere Adresse und ohne besonderen Besitz. Gegenwärtig als Kinderaufpasser angestellt.« Er kam an meine Seite, legte einen Arm um mich und wurde wieder mein.
» Als Kinderaufpasser?«
» So in etwa, ja. Auch wenn das Kind nicht begreift, dass ich auf es aufpasse.«
» Lözgalt Freiholtz?«
» Ah, du kennst seinen wahren Namen? Ja, das ist der Junge. Festenerbe von Bethanie. Und manchmal ein echtes Krabbenhirn. Ich habe immer noch keine Ahnung, was in ihn gefahren ist, als er hierher nach Gorthen-Nehrung gekommen ist. Ich habe den Verdacht, er hat sich als menodischer Held gesehen, der auszieht, um den Gottlosen von Gorthen-Hafen geistlichen Beistand zu leisten. Die Sache ist nur, er hat jetzt nach ein paar anfänglichen traumatischen Streifzügen so viel Angst, dass er nur noch in der Trunkenen Scholle herumsitzt und sich bemitleidet. Wenn wieder Schiffe von hier ablegen, kann ich ihn vielleicht überreden, dass es an der Zeit ist, nach Hause zurückzukehren.«
» Arbeitest du für den Festenherrn?«
» In gewisser Weise, ja«, sagte er beiläufig. Zu beiläufig. » Sein Vater will nicht, dass ich ihn mit Gewalt nach Hause hole; das würde seinen Groll nur noch verstärken. Andererseits möchte er auch nicht, dass ihm etwas zustößt, und daher bin ich geschickt worden, um ihn im Auge zu behalten. Das war recht einfach, als er auf die Wahrer-Inseln gefahren ist, aber hier ist es nicht so leicht.«
Er log, oder zumindest erzählte er mir nicht die ganze Wahrheit, und ich wusste es. Ich kannte ihn zu gut … Wir waren uns zwar erst vor kurzem begegnet, aber es gab Teile von ihm, die kannte ich so gut wie mich selbst …
Jetzt, da Thor mein Gedächtnis angestoßen hatte, glaubte ich mich daran erinnern zu können, dass der Festenherr sich ziemlich deutlich darüber ausgelassen hatte, wie man seinen Sohn wieder zurückholen könnte, damit er seine Pflicht als Erbe des Herrschers erfüllte. Der Festenherr von Bethanie war mitnichten gütiger als der Burgherr von Cirkase.
Ich vermute, ich hätte empört sein sollen, dass Thor mich angelogen hatte, aber irgendwie beunruhigte es mich nicht. Ich, die niemals irgendwem in meinem Leben vertraut hatte, vertraute ihm. Die Lüge schien keine Rolle zu spielen. Es kam mir so vor, als könnte die Liebe den Argwohn eines ganzen Lebens beiseiteschieben und mich selbst die elementarste Vorsicht vergessen lassen.
Die Liebe macht Narren aus uns allen.
» Das ist ungerecht, Thor«, sagte ich. » Du willst den abtrünnigen Festenerben von Bethanie nach Hause zurückbringen, machst mir aber Vorwürfe, dass ich das Gleiche mit dem abtrünnigen cirkasischen Burgfräulein tue, die ebenfalls die Erbin eines Inselherrn ist.«
Er rollte sich herum und liebkoste meine Brust. » Da ist ein Unterschied. Wenn sie zurückgeht, wird sie eine Schachfigur der Wahrer und die gefangene Ehefrau eines üblen Perversen sein. Bei Lözgalt ist das etwas anderes. Er hatte vorgehabt, ein menodischer Patriarch zu werden. Abgesehen von ihm selbst war jedoch allen nur zu klar, dass er sich für diese Aufgabe einfach nicht eignete. Ich hege große Hoffnung, dass er das jetzt begreift, seit er gesehen hat, wie die Gottlosen auf Gorthen-Nehrung leben.« Er kicherte. » Gorthen-Hafen war jedenfalls ein schrecklicher Schock für den Festenerben.«
» Ich hätte nicht gedacht, dass du daran interessiert bist, den Erben eines Inselherrn auf seine angestammte Position zu setzen. War das nicht
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