Die Inseln des Ruhms 02 - Der Heiler
versuchte, ihn in den kümmerlichen Resten des Seilnetzwerks zu verhaken. Ich wusste, dass ich ihn unbedingt daran hindern musste. Ich konnte es mir nicht leisten, ihm noch mehr Zeit zu geben; er würde mich töten oder irgendjemand anderen – oder uns alle. Und so trat ich ihm in die Kehle, trieb ihm meine Fußspitze mit einer bösartigen Wildheit, die mich früher einmal beschämt hätte, in die klaffende Wunde. Sein Hinterkopf prallte gegen die Felswand, während sein Hals zerfetzt wurde und arterielles Blut herausschoss. Seine Hand lockerte sich, glitt über mein Handgelenk. Und dann fiel sein Körper in die Tiefe, und ich klammerte mich an das Seil, allein und keuchend.
Ich sah ihm nach, wie er sich mehrmals überschlagend nach unten stürzte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich wusste, wann der Moment gekommen war, so sicher, als hätte ich seinem Herzschlag lauschen können: Ich kannte den Geruch des Todes. Das Platschen, als sein Körper eine Sekunde später aufs Wasser prallte, war klein und unbedeutend, kaum das passende Ende für einen Mann, der ein ganzes Volk ausgelöscht hatte.
Ich dachte, ich hätte genug Schrecknisse für einen Tag erlebt. Genug von allem. Aber noch während ich aufsah, um zurück nach oben zu klettern, stürzte ein nackter Mann an mir vorbei. Er schrie, entsetzliche Geräusche von tierischer Eindringlichkeit. Mit einem übelkeiterregenden Geräusch, das ich nie wieder hören möchte, prallte er von einem Felsvorsprung ab, dann fiel er stumm und schlaff wie eine Puppe nach unten, bis er im Wasser aufkam.
Ich verstand das nicht. Es ergab keinen Sinn. Die Tatsache, dass er keinerlei Kleidung getragen hatte, ließ jede Erklärung, die durch meinen Geist flatterte, als Unsinn erscheinen. Ich kletterte hoch, meine Gedanken waren unzusammenhängend, richteten sich auf nichts anderes als darauf, zurück in die Stadt zu kommen. Als ich oben ankam, halfen mir Dek und Reyder über die Kante.
» Wir haben von unserem Pfad aus gesehen, wie Ihr gekämpft habt«, sagte Reyder ruhig. » Daher sind wir zurückgekehrt. War das Morthred? Ist er tot?« Er wirkte seltsam gedrückt. Sein Geruch verriet, dass er unter Schock stand, sich jedoch vollkommen unter Kontrolle hatte.
Ich nickte.
» Seid Ihr sicher ?«
» Ich habe seinen Tod gerochen.«
Am hinteren Ende der Aussichtsplattform lag die Leiche eines weiteren Mannes auf den Pflastersteinen, das Gesicht zermalmt, die Gliedmaßen unnatürlich verrenkt.
» Wer … wer ist das?«, fragte ich verständnislos.
Und wer war der Mann, der an mir vorbei ins Wasser gestürzt ist?
Von überall um uns herum kamen jetzt unnatürliche, unmenschliche Schreie der Qual, als hätte es in der kurzen Zeitspanne eine Katastrophe gegeben, die einen Teil des Lebens dieser Stadt verzehrt hatte. Ich begann zu zittern, wurde von unkontrollierbaren Schauern überlaufen.
» Ich weiß es nicht«, sagte Reyder.
Ich roch das Widerstreben des Patriarchen, seine Gedanken zu äußern. Da war Trauer und Wut, und vor allem Entsetzen; eine Mischung aus Gefühlen, die in seiner Haltung ebenso verborgen waren wie in seinem Aroma. Ich sah ihn wieder an, fragend, und zugleich in dem Wissen, dass ich seine Antwort nicht hören wollte.
» Ich glaube, es …«, sagte er, » … es könnte Ruarth gewesen sein.«
Ich mühte mich mit seinen Worten ab, versuchte zu verstehen, was er nicht sagte.
» Der Mann ist vom Himmel gefallen, als wir hierhergekommen sind«, erklärte Reyder. » Er ist aus dem Nichts heruntergefallen.«
» Dahinten sind noch ein p-p-paar andere«, fügte Dek zitternd hinzu. » N-n-nackte Leute. Männer, Frauen. Ein Junge in meinem Alter. Alle wurden irgendwie zermatscht, als sie runtergefallen sind.« Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen geweitet. Er hatte gewollt, dass etwas passierte; jetzt, da er es gesehen hatte, wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.
Einen Moment lang verstand ich es immer noch nicht. Ich sah zurück zu dem, was von der Flosse und dem Krümel übrig geblieben war, dann blickte ich wieder zum Meer, wo Glut irgendwo noch lebte oder auch nicht, dann zu der nackten Leiche auf der Plattform. Und dann, in einem blendenden Moment der Erkenntnis, verwandelte sich meine Welt für immer.
Ich sank auf die Knie.
Ich war so blind gewesen. So davon überzeugt, dass Magie nicht wirklich existierte. So sicher, dass ich recht hatte. So sicher, dass die Leute der Dunstigen Inseln nicht wirklich von Morthred, dem Wahnsinnigen,
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