Die Inseln des Ruhms 02 - Der Heiler
ihrem Entsetzen auf unterschiedliche Weise Ausdruck, von aufgeregtem Reden zu unkontrolliertem Schluchzen oder Erbrechen.
» Wo ist Morthred?«, wollte Reyder wissen.
» Ich weiß es nicht«, sagte ich. » Er ist … er ist verschwunden.«
Er starrte mich ungläubig an. » Ihr habt ihn entkommen lassen?«
Ich zuckte beschämt zusammen. » Er ist verschwunden. Wir haben gekämpft, und er hat eine brennende Fahne auf mich geschleudert. Ich habe mich kurz in sie verwickelt, und als ich mich endlich von ihr befreit hatte, war er nirgends mehr zu sehen. Leute sind gekommen, und ich schätze, er hat begriffen, dass seine Maskerade zu Ende war, und ist geflohen.«
» In welche Richtung?«
Ich zwang mich nachzudenken, logisch zu denken. Dek und Reyder waren über den Dachweg vom Zentrum der Stadt gekommen, und Morthred hätte sich mit keiner Illusion der Welt vor ihnen verbergen können. Und er war nicht an mir vorbeigekommen, dessen war ich mir ganz sicher. Ich deutete die Klippe entlang zu einem schmalen Landstrich, der die ersten Hauswände der Stadt säumte. » Er muss dahin gegangen sein.« Die Fahnen auf den Gebäuden mussten ihn meiner Sicht entzogen haben.
Reyder wartete nicht, bis ich fertig gesprochen hatte. Er rief Shavel etwas zu, und nur Augenblicke später liefen er, Dek und der Sekuria die Plattform entlang, um dem Pfad am oberen Rand der Klippe zu folgen, der förmlich zwischen Häuserwänden und einem benommen machenden Abgrund in Richtung Wasser eingezwängt war.
Ich hätte mit ihnen gehen können. Mein Gespür für Dunkelmagie war besser als das von Reyder oder Dek; ich hätte ihnen nützen können. Aber sie beachteten mich nicht, und ich war erschöpft, sowohl emotional als auch körperlich. Und jetzt, da meine Rolle bei dieser Sache beendet zu sein schien, war ich krank vor Sorge, was mit Glut geschehen sein mochte. Hatte ich zu spät gehandelt, für sie ebenso wie für die Menschen auf der Flosse? Leute waren gestorben, weil ich gezögert hatte. Meine Hände begannen zu zittern.
Yethrad, der von Shavel und den Wachen allein gelassen worden war, warf mir einen wütenden Blick zu und stapfte gemeinsam mit anderen angeschlagenen Höflingen in Richtung der über die Dächer führenden Wege davon. In der Zwischenzeit stellten die Anwesenden aus zerbrochenen Stuhlbeinen und Geländerteilen behelfsmäßige Tragen her, um die Schwerverletzten wegbringen zu können. Müde lehnte ich mich gegen ein paar noch stehende Überreste des Geländers und sah dorthin, wo die Flosse einst gestanden hatte. Ein Teil davon war immer noch über den Wellen zu sehen: ein weißes Überbleibsel aus Felsgestein, ein zerbrochener, zerklüfteter Zahn in einer wogenden See. Vögel kreisten über ihm, schrien ihre Fassungslosigkeit heraus. Im Dünnhals zogen die Vergnügungsboote – das, was von der Flotte noch übrig war – wie kopflose Käfer ihre Kreise, suchten inmitten der Wrackteile nach Überlebenden. Vielleicht würde eines davon Glut finden …
Ich beugte mich so weit nach vorn, wie ich mich traute, um herauszufinden, ob irgendjemand in dem Gebiet unterwegs war, in dem sie verschwunden war. Erleichtert sah ich, wie viele Boote und Seeponys immer noch die lange schmale Passage bevölkerten.
Und dann sah ich ihn: direkt unter mir. Morthred. Er war nicht die Klippe entlanggeflohen; er war über den Rand gestiegen und die Felswand hinuntergeklettert. Zweifellos plante er, seine Macht der Illusion und Bezwingung einzusetzen, um ein Boot dazu zu bringen, ihn zu retten, wenn er erst das Wasser erreicht hatte. Aber zunächst einmal musste er dahin kommen, und tatsächlich war er noch nicht sehr weit abgestiegen. Er kam in dem Netzwerk aus Seilen, das von den Guano-Sammlern stammte, nur sehr langsam voran. Seine Bewegungen waren einstudiert, die Parodie einer Spinne, die ihre Beute entlang seidener Fäden verfolgte.
Dunkelmagie und der Gestank von Angst trieben in Schwaden zu mir herauf.
Es dauerte einen Moment, ehe ich verstand.
Er hatte Angst. Nein, es war mehr als das. Er war zu Tode erschrocken. Ich musste es nicht riechen, um das zu wissen. Sein langsamer Abstieg, die vorsichtige Art und Weise, in der er nach den Seilen griff, die Beharrlichkeit, mit der er sich weigerte, nach unten zu schauen, um eine Stelle für seinen Fuß zu finden, die langen Pausen zwischen jeder Bewegung, das Zucken seines Körpers, das jedes Mal einsetzte, wenn ein Seevogel mit lautem Geschrei an ihm, dem Eindringling, vorbeisegelte …
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