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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Für das Recht, der zu sein, der sie sein wollten. Maikea wusste, auch sie würde kämpfen müssen. Für ihre Freiheit.
    Und für ihren Wunsch, dieses schreckliche Waisenhaus hinter sich zu lassen, nach Hause zurückzukehren und Inselvogtin zu werden.

9
    D er Junge, der in der Mitte der langen, übermäßig geschmückten Tafel saß, löste in Weert Switterts eine Mischung aus Faszination und Belustigung aus. So einer sollte mal Regent von Ostfriesland werden? Er kam ihm eher vor wie eine Puppe, die nur von unsichtbaren Fäden gezogen wurde.
    Die Kleidung war edel und lächerlich zugleich: ein kastanienbrauner Rock mit silbernen Knöpfen und feinsten Blumenstickereien an Ärmeln und Taschen, dazu in der gleichen Farbe knielange Hosen und Strümpfe. Um den Hals war ein Schal aus weißer Spitze geknotet, der für Weerts Geschmack etwas zu weibisch aussah.
    Carl Edzard von Ostfriesland trug sogar Handschuhe, einen Spazierstock und schwarze Stiefel. Er wirkte wie ein zu klein geratener Edelmann, und trotz seiner knabenhaften Stimme sprach er wie ein Erwachsener. Nur wenn man sein Gesicht betrachtete, diese rosaroten Pausbäckchen, die geschwungenen Lippen und das dünne Lockenhaar, dann erkannte man das Kind in ihm.
    Wie ungerecht doch diese Sache mit der adeligen Abstammung war, dachte Weert. Da würde in absehbarer Zeit so viel Macht in die Hände eines Schwächlings gelegt, obwohl es junge Männer wie ihn gab. Männer, die mit Geschick das Geschehen zu lenken wussten und dabei sogar noch gut verdienten. Zwar würde er selber niemals die Möglichkeit haben, als Fürst zu regieren, aber dennoch reizte Weert die Aussicht, ein Leben zu führen, wie Carl Edzard von Ostfriesland es tat: keine körperliche Arbeit, kein Schmutz an den Händen, immer das feinste Essen auf dem Tisch und den besten Zwirn am Leib.
    Nach einer kleinen Andacht in der Kapelle und allen sechs Strophen von»Lobet den Herren « Wurde der Fürstin und ihrem Stiefsohn nun das Essen serviert. Auf den einzigen silbernen Tellern, die es im Waisenhaus gab, dampften bereits verlockende Fleischstücke. Die Dauer des Tischgebets war den Heimkindern wie eine Ewigkeit erschienen, und nun warteten alle gespannt darauf, dass die Gäste mit dem Essen begannen. Doch der zukünftige Regent von Ostfriesland zögerte noch.
    »Ihre Durchlaucht, hochfürstliche Stiefmutter, mir ist so übel «, jammerte der Junge.»Warum serviert man uns hier den Fraß für die Hunde?«
    Niemand sagte ein Wort. Weert schaute sich um: Pastor Bilsteins Gesicht war aschfahl. Der Koch, der sich erwartungsfroh in der Tür zum Speisesaal postiert hatte, drehte sich brummelnd um und stampfte davon. Die Rauschweiler lächelte tapfer. Nur Maikea, die gerade die Servierschalen auf den Tisch stellte, konnte ihre Wut nicht verbergen. Womöglich platzte sie gleich wieder los, dachte Weert. Das würde ihren schlechten Ruf als Wilde von der Insel einmal mehr unterstreichen.
    Die Fürstin, eine freundliche Dame mit ruhigem Wesen, beugte sich zu ihrem Stiefsohn und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    »Muss ich das wirklich essen?«, fragte der Fürstensohn laut.»Was ist das denn überhaupt? Fasan? Hirsch? Ich habe nie ein solches Fleisch gesehen.«
    »Es ist bestes Schweinefleisch «, antwortete der Pastor, wohl in der Hoffnung, den unangenehmen Moment zu übergehen.
    »Schwein?«, rief Carl Edzard.»Ich habe einmal Schweine gesehen. Sie sind furchtbar schmutzig und stinken zum Himmel.«
    Seine Stiefmutter lächelte, als ob es sich nur um einen dummen Scherz handelte. Doch jeder im Saal hatte verstanden: Der Fürstensohn hielt das Festessen der Waisenkinder für unzumutbaren Fraß, und es war sein voller Ernst.
    »Aber Carl Edzard, soweit ich mich erinnere, fandest du die Tiere doch auch ganz niedlich.« Im Saal wurde es unruhig. Wer besaß die Dreistigkeit, den Fürstensohn anzusprechen und ihn dann auch noch beim Vornamen zu nennen? Neugierig sah Weert sich um.
    Jantje Haddenga, ein hübsches, aber etwas einfältiges Ding, das sich in den letzten Wochen ausgerechnet mit Maikea Boyunga angefreundet hatte, winkte zum Fürstensohn hinüber. Weert war sich sicher, dass es nun ein Donnerwetter geben würde. Wenn nicht vom beleidigten Carl Edzard selbst, dann zumindest von seiner Stiefmutter, dem Pastor oder einem der bereitgestellten Soldaten, die zu seinem Schutz mitgereist waren und sich links und rechts an der Fensterseite postiert hatten.
    Doch etwas völlig anderes geschah: Die maulige Miene des

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