Die Inselvogtin
Abstand zum Waisenhaus wurde, desto besser fühlte er sich. Weert konnte sein Glück kaum fassen: Sie waren unterwegs nach Aurich, an den Fürstenhof.
Die Dämmerung setzte bereits ein, als sie das Nordertor passierten. Der Himmel färbte sich rot über dem Deich. Und schon in diesem Moment hatte Weert jeden Gedanken an Maikea Boyunga und ihr ungeklärtes Schicksal verdrängt. Was hatte sie noch mit ihm zu tun? Er war unterwegs in sein neues Leben.
TEIL 3
Juni 1734
1
M aikea zog die letzte Linie, rechnete die Zahlen noch einmal durch und notierte sie auf einem Blatt Papier, welches schon so angefüllt mit Ziffern und Buchstaben war, dass man kaum noch einen weißen Fleck erkennen konnte.
Es war unglaublich. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie konnte es nicht erwarten, bis ihr Lehrmeister wieder von seinem Abendspaziergang zurückkam, damit sie ihm endlich den Beweis unter die Nase halten konnte. Er würde staunen, er würde nachrechnen und ein zweites Mal das Maßband an die exakte Zeichnung legen. Und Maikea wusste, heute musste er zugeben, dass sie all die Monate recht gehabt hatte mit ihrer Vermutung.
Sie legte die Feder zur Seite und trat ans Fenster. Da es draußen schon dämmerte, konnte sie ihr Spiegelbild in der Scheibe erkennen. Maikea nahm ihr Aussehen nur selten wahr, denn im Haus des Kartenmalers gab es keine Spiegel – bis auf das halb blinde Ding, nicht größer als eine Handfläche, das der Jude zum Rasieren benutzte. Ihr inzwischen hüftlanges Haar kämmte Maikea sich noch immer mit Geeschemöhs Perlmuttkamm, doch sie tat es meist, ohne einen Blick darauf zu werfen. Jetzt erschrak sie fast ein bisschen, denn das Fenster zeigte ihr ein Bild, das sie an ihre Mutter erinnerte. Ihr Tod lag schon fünf Jahre zurück, und Maikeas Erinnerungen an die Insel und die Menschen ihrer Kindheit waren so diffus wie die Deichlandschaft da draußen, die an diesem Abend im frühsommerlichen Dunst lag. Aber Maikea wusste, sie war ihrer Mutter sehr ähnlich, nur etwas kräftiger und größer war sie, denn sie hatte wohl auch etwas von ihrem stattlichen Vater mitbekommen. Ob sie hübsch war oder nicht, daran verschwendete Maikea kaum einen Gedanken. Für wen auch? Das Augenlicht des alten Josef Herz war zwar noch immer hervorragend, doch er schätzte an ihr weniger die weiblichen Reize als vielmehr die Tatsache, dass sie ihm so fleißig zur Hand ging. Wenn seine Finger zu zittrig waren, erstellte sie nach seinen Anweisungen die Kartenzeichnungen. Und nur, wenn der Weiße Knecht für ein paar kurze Stunden zu Besuch kam, flocht sie sich das Haar besonders sorgfältig und zog sich das blaue Kleid an, das aus dem Schrank der längst verstorbenen Frau ihres Meisters stammte. Der Stoff fühlte sich weicher und luftiger an als die anderen Stoffe. Zudem hatte der Weiße Knecht sie, als sie das Kleid zum ersten Mal trug, ganz besonders lange angesehen und festgestellt, dass es die Farbe ihrer Augen zum Strahlen brachte. Derlei Sätze sagte er sonst nicht, und es hatte Maikea merkwürdig verwirrt. Seitdem zog sie sich manchmal hastig um, wenn sie das Hufgeklapper seines Friesenhengstes hörte. Sie beeilte sich dann, die Haare zu lösen und das silberne Medaillon über den Stoff auf die Brust zu legen.»Den Weißen Knecht schlage dir aus dem Kopf «, sagte Josef Herz immer, wenn er ihre Unruhe bemerkte.»Er ist zu wild. Und er hat ein Weib, dem er zu Dank verpflichtet ist. Helene musste viele Wochen wegen ihm in Gefangenschaft verbringen, und die Soldaten haben sehr schlimme Dinge mit ihr angestellt, aber sie hat ihren Liebsten nicht verraten.« Meist fügte er noch hinzu:»Außerdem wird es Zeit, dass du unter die Menschen kommst und nicht ständig bei einem alten Knochen wie mir über Landkarten brütest.«
Maikea wurde dann stets sehr still. Obwohl sie in den letzten Jahren in einem Haus mit Josef Herz gelebt und nahezu den ganzen Tag mit ihm verbracht hatte, war ihr Verhältnis ein sonderbares. War sie seine Haushälterin? Seine Schülerin? Oder noch immer eine Geisel, die man niemals ausgelöst hatte und in all den Jahren vergessen zu haben schien?
Aber es war nicht das schlechteste Leben in diesem Haus am Deich. Sie hatten stets genug zu essen, Maikea genoss die Ruhe und die Nähe zum Meer. Und sie lernte sehr viel von ihm. Manchmal holte der alte Mann ein paar Karten hervor, die er aus seiner Lehrzeit aufgehoben hatte. Sein eigener Meister war einige Jahre bei Ubbo Emmius zur Schule gegangen und hatte dort die
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