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Die Inselvogtin

Die Inselvogtin

Titel: Die Inselvogtin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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wunderbarsten geographischen Zeichnungen kopiert und so über die Jahrhunderte gerettet.
    Maikea erhielt auf diese Weise ein sehr umfangreiches Bild von der Entstehung, Wanderung und partiellen Vernichtung der Ostfriesischen Inseln, aber auch die Veränderung der Küstenlinien durch Deichbau oder heftige Fluten konnte man auf diese Weise nachvollziehen. Und sie liebte es, am Abend mit Josef Herz über ihre Heimat zu sprechen. Das machte sie zufrieden.
    Maikea wandte sich vom Fenster ab. Wann kam Josef Herz endlich zurück? Der alte Mann war ein Freund von Gewohnheiten, jeden Abend genoss er seinen Spaziergang auf dem Deich. Immer wollte er dabei allein sein. Aber heute, so schien es, ließ er sich mehr Zeit als sonst. Oder es kam Maikea nur so vor, weil sie vor Ungeduld beinahe platzte?
    Schließlich hielt sie es nicht länger aus, nahm ihren Umhang und das Papier und ging vor die Tür. Normalerweise störte sie ihren Meister nicht, aber das Ergebnis ihrer Berechnungen war doch wohl ein guter Grund, ihm ein Stück entgegenzugehen.
    Es war kühl draußen und ungewöhnlich windstill. Die feuchte Luft schwebte in nebligen Wolken über den Gräsern. Einige Schafe blökten. Die Tiere sorgten mit ihren Hufen und ihrem Dung für die Festigkeit der Grasnarbe auf dem Deich. Von der Brandung hörte Maikea nichts. Überhaupt war das Meer hier nicht zu vergleichen mit dem um Juist. Die vorgelagerten Eilande bremsten es aus, weshalb nur kleine Wellen leise und müde den Festlandsdeich erreichten. Selbst bei Sturmfluten im Winter – die in den letzten Jahren zum Glück kaum vorgekommen waren – hatte das Meer nichts Bedrohliches, wie es Maikea von ihrer Insel kannte. Und heute, am Deich von Westerbur, war die Nordsee nahezu stumm.
    Maikea entdeckte Josef Herz weiter hinten auf dem Deichkamm. Sein Gang war noch immer der eines fast jugendlichen Mannes, obwohl er bald siebzig wurde und sein Rücken etwas krumm war. Sein weißes, dünnes Haar war feucht geworden und warf wilde Locken. Er schaute auf das Meer hinaus. Die Feuchtigkeit der Grasnarbe hatte die Beine seiner Hose durchnässt.
    Als er sich zu ihr umblickte, schien er verwundert. Normalerweise bereitete Maikea um diese Zeit das Nachtmahl für sie beide zu: Käse aus der Milch der Deichschafe, Gerstenbrot und Butter. Es hatte sie ein paar Wochen gekostet, bis sie sich an das koschere Essen gewöhnt und dessen Zubereitung erlernt hatte. Es gab so vieles, an das man denken musste. Doch heute hatte sie es vor lauter Aufregung einfach vergessen.
    Nun lief sie schnell den Deich hinauf und musste erst einmal Luft holen, als sie oben bei ihm ankam.
    »Ich habe es herausgefunden!«, schnaufte sie nur.
    »Was hast du herausgefunden?«
    »Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Seegatts und den dahinterliegenden Landflächen. Man kann es ausrechnen. Und das ist gar nicht so kompliziert!« Maikea hielt ihm ihre Notizen unter die Nase.
    »Kinderleicht scheint es mir aber nicht gerade zu sein, wenn ich mir dieses Zahlengewirr anschaue … «
    Doch Maikea beachtete seinen Spott nicht, sondern rollte das Papier wieder zusammen und zeigte stattdessen auf das vor ihnen liegende Wattenmeer.
    »Wenn es nicht schon fast dunkel wäre, könnten wir jetzt die Inseln sehen. Den östlichen Zipfel von Norderney, dann das winzige Baltrum und weiter rechts die Westküste von Langeoog.«
    »Ich bin Kartenmaler, ich kenne die Namen und Lage der Inseln.«
    »Ja, aber wisst Ihr, genau diese drei Eilande machen es besonders deutlich, denn sie sind so verschieden. Norderney hat sich aus den Überresten der alten Insel Buise gebildet und … «
    »Was du mir hier gerade erzählst, habe ich dir beigebracht. Auch wenn ich mich bei meiner Arbeit mehr auf das Festland konzentriere, ist mir die Geschichte der Inseln wohlbekannt. Was kannst du mir also Neues berichten?« Josef Herz lachte.
    »Ihr macht Euch lustig, obwohl Ihr ganz genau wisst, dass ich recht habe.«
    »Ich mache mich lustig über deine Verbissenheit.«
    Doch Maikea wollte sich nicht von ihm auslachen lassen, dazu war ihr dieses Thema zu wichtig.»Ihr wisst, dass ich recht habe. Mit den Berechnungen könnte man die Inseln viel wirkungsvoller vor Sturmfluten schützen.«
    Eine Zeit lang sagte Josef Herz nichts. Seiner Miene war nicht abzulesen, ob er nun stolz war, gelangweilt oder vielleicht sogar verärgert. Aber Maikea wollte ihn überzeugen, denn Josef Herz war ein kluger Mann, und er besaß einen gewissen Einfluss. Wenn er an ihre Idee glaubte

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