Die Inselvogtin
begierig erwartete sie die Ergebnisse. Sie hatte viele Fragen, denen sie nachgehen musste: Welchen Einfluss hat das Wetter auf das Meer? Wie lange musste es regnen, bis die Ozeane überliefen? Weswegen schwoll die Nordsee nur bei Weststurm an, während sie sich bei Wind aus östlicher Richtung zurückzog und die sandigen Flächen des Wattenmeeres entblößte?
Maikea wollte Antworten finden, deswegen hatte sie zahlreiche Forderungen gestellt, die an ihren Aufenthalt im Fürstenhof geknüpft waren: verschiedene Messgeräte, eine Kutsche, die sie bei Bedarf schnell an die Küste brachte, jede Menge Papier und Federn und Stifte. Und Ruhe. Niemand durfte sie bei der Arbeit am Schreibtisch stören, auch nicht Weert, der ihr sein Studierzimmer zur Verfügung gestellt und für die Erfüllung ihrer Ansprüche gesorgt hatte. Dennoch besuchte er sie häufig. Meist tat er so, als interessiere er sich für ihre Arbeit, aber Maikea merkte schnell, dass er ein ganz anderes Interesse verfolgte.
Zum Glück war er nun seit ein paar Tagen mit dem Staatsbegräbnis beschäftigt und schaute fast gar nicht mehr vorbei.
»Was macht Ihr da, um Himmels willen?« Gregor fuchtelte am Ufer wild mit den Armen herum. Offensichtlich traute er sich aber nicht, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden. Bei jeder Welle trat er sogar einen Schritt rückwärts.
Maikea band die Schlaufe des Senkbleis an das Ende der Messlatte.»Ihr könntet mir helfen!«, rief sie statt einer Antwort.»Ich brauche jemanden, der den Stab aufrecht hält, damit ich den Ausschlag der Strömungen messen kann. Wenn ich zwei Hände frei habe, geht es besser … «
Gregor schaute sie an, als habe sie von ihm verlangt, einen lebenden Fisch zu schlucken.»Gregor, ich bitte Euch! Außerdem geht es bei weitem schneller, wenn Ihr mir helft.«
Der Regen wurde stärker, und inzwischen waren sie beide von oben beinahe so nass wie von unten. Widerwillig schob sich Gregor die Stiefel vom Fuß, nicht ohne Ächzen und Grimassieren. Dann trat er sehr vorsichtig ins Wasser. Der Schlick war rutschig, und er wäre beinahe gefallen.
»Das ist verdammt kalt!«, fluchte er zwischen zusammengekniffenen Lippen. Maikea sah ihm an, dass er in diesem Moment lieber den Pferdestall ausgemistet hätte – womöglich sogar ohne Forke.
»Bitte haltet den Messstab ganz gerade, das ist wichtig, damit das Ergebnis exakt wird.«
Gregor sagte nichts, sondern streckte nur seinen Arm nach der Holzlatte aus. Anschließend stand er vollkommen still da, als hätte das kühle Meer ihn tatsächlich in Eisstarre versetzt.
Maikea hockte sich hin, mit dem Rücken zur Brandung, damit sie sich einigermaßen halten konnte. Die erste Welle war nicht allzu groß. Sie nahm einen zweiten Stab, ein etwas kleineres Modell, und legte ihn an das untere Ende der anderen Latte an. Die Welle hob das Senkblei an und schob es vorwärts. Maikea schaute genau nach, es hatte sich eine knappe Elle entfernt. Dann zog sich das Wasser zurück, nahm ein wenig Muschelkalk und Sand mit sich und ließ winzige Strudel entstehen. Das Pendel schlug zur anderen Seite, etwa zwei Drittel so weit wie zuvor.
»Die Strömung des auflaufenden Wassers ist gar nicht so viel gewaltiger als die des abfließenden. Und wenn ich mich nicht irre, ist das Verhältnis bei steilem Ufer noch geringer … «
»Ach so «, sagte Gregor und schaute demonstrativ in eine andere Richtung.
»Das ist wichtig, wisst Ihr? Die auftreffende Kraft lockert den Boden, die abfließende nimmt das gelöste Material mit. Der Sand ist an dieser Stelle verloren gegangen, doch er wird dem Gezeitenstrom folgen und weiter im Osten wieder angespült werden.«
»Ich verstehe.« Gregor nickte und wollte sicher nur, dass die Messungen schnell beendet waren.
Die nächste Welle war größer und schwappte bis zu seinen Oberschenkeln. Er jaulte auf, als habe er Schmerzen.
»Wenn ich mich nicht verrechnet habe, entspricht das Strömungsverhältnis dem der kleineren Woge. Interessant. Ich -«
»Hilfe!«, schrie Gregor auf einmal, und seine Stimme hatte sich in das hysterische Kieksen eines kleinen Jungen verwandelt.»Dort! Ein Untier!« Abrupt ließ er die Messlatte los und rannte mit großen Schritten an Land.
Maikea konnte im Wasser schemenhaft einen davoneilenden Taschenkrebs erkennen.»Eine Strandkrabbe. Die ist doch hundertmal kleiner als Ihr!«
»Das Biest hat mich gekniffen!«
»Soweit ich sehe, ist aber noch alles dran. Also bitte, Gregor! Kommt zurück und helft mir! Wir
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