Die Inselvogtin
Augen sein. In meinen ist er – was dieses Urteil angeht – grausam!«
»Aber dieser von dir bewunderte Rebell, dieser Weiße Knecht, er hat auch Menschenleben auf dem Gewissen. Die Soldaten, die er getötet hat, besaßen Familie, Frau und Kinder … «
»Ich habe nie behauptet, dass es nicht so ist.« Auch Maikea war jetzt aufgesprungen.
»Wie kannst du dann … Wie kannst du … ach!« Jantjes Satz verebbte in Fassungslosigkeit.
Die Frauen standen sich gegenüber, die Hände in die Hüften gestemmt, und ihnen war in diesem Moment klar, dass sich von nun an alles ändern würde. Bei aller Freundschaft gab es nach diesem Streit zu viel, was sie trennte, um noch unbefangen miteinander im Schnee zu tollen, gemeinsam eine Kutschfahrt zu machen oder Schokoladenmilch zu trinken.
Maikea überlegte, ob sie etwas Versöhnliches sagen sollte. Doch ihr Kopf war leer. Irgendwann drehte Jantje sich wortlos um und drückte neue Fußspuren in den frisch gefallenen Schnee.
Sie hätte hinterherlaufen können. Aber Maikea ließ sich wieder auf die Bank fallen und blieb dort regungslos sitzen, bis sie selbst eine Decke aus Schnee auf ihrem Kopf hatte. Wenn sie doch nur vor ihrem Besuch bei Weert von dieser Geschichte erfahren hätte! Dann wäre vielleicht noch Zeit gewesen, ein gutes Wort für die Juister einzulegen. Doch nun musste sie einen anderen Weg finden, den Inhaftierten zu helfen. Sollten sie hingerichtet werden, ohne dass sie etwas dagegen unternommen hätte, würde Maikea es sich nie verzeihen.
Aber um fünf Menschen vor dem Tod zu retten, dazu brauchte sie ein echtes Wunder.
Von Weert wusste sie, dass dieser seine Ziele stets erreichte, weil er dem richtigen Mann zum richtigen Zeitpunkt genügend Geld in die Hand drückte. Dann konnten Wunder wahr werden.
Doch Maikea war arm. Die wenigen Mariengroschen, die sie in einem Kästchen auf ihrem Schreibtisch aufbewahrte, würden bei den Gefängniswachen nur ein bösartiges Grinsen hervorrufen, da war sie sich sicher.
Hätte sie doch nur …
Sie spürte ein Ziehen in ihrer Brust. Ihre Hand fasste nach dem Medaillon. Seit Jahren schon lag es da, nie hatte sie es abgenommen, kaum jemandem gezeigt, und nur ganz selten, wenn sie allein war, hatte sie selbst einen Blick darauf geworfen.
Es war das Wertvollste, das sie besaß.
Mit kalten Fingern zog sie das Schmuckstück hervor.
Das schwere Silber war in den Rillen des Blumenmusters schon ein wenig angelaufen, doch der Mechanismus funktionierte noch immer. Wenn man das Häkchen nach rechts schob, sprangen die beiden Ovale auseinander, und links und rechts wurden die beiden Porträts sichtbar. Das zarte Gesicht ihrer Mutter, der starke Ausdruck ihres Vaters. Es war die letzte Erinnerung, die sie in die Hand nehmen konnte, und eigentlich war sie immer sicher gewesen, dieses Schmuckstück niemals fortzugeben.
Nun dachte sie anders.
14
D ie Gruppe war seit gestern Nacht um fünf Mann stärker.
Fünf verzweifelte, wütende, kräftige, entschlossene Kerle, also genau die Sorte, die der Weiße Knecht brauchte.
Treffpunkt war die ausgebrannte Mühle in Pewsum, mitten im flachen Land, die so gespenstisch aussah, dass die Anwohner ringsherum den Ort mieden. Der Galerieholländer war eine moderne Mühle gewesen, achtkantig gebaut, zur Hälfte aus massivem Stein und mit zwei reetgedeckten, sich verjüngenden Stockwerken darüber. Ein schwelender Brand vor drei Jahren hatte das Gebäude zwar nicht zerstört, aber durch die Rußablagerungen unbrauchbar gemacht.
Seit vier Monaten war dies die Wohnstätte des Weißen Knechts. Ein Zuhause konnte man es nicht nennen. Doch die Kälte nistete nur im untersten Stockwerk. Wenn man die notdürftig reparierte Leiter nach oben stieg, bis zum verkohlten Drehkranz, der die Mühlenflügel einst mit dem Mahlstein verbunden hatte, wurde es merklich wärmer. Hier lagen Stroh und ein paar Decken, und es war Platz genug. Unter dem Dach konnte man sogar Laternen anzünden, denn die zwei kleinen Fenster, die den Lichtschein hätten verraten können, waren sorgfältig zugehängt.
An jenem Morgen, im späten Dezember, fanden die fünf Männer den Weg nach Pewsum. Kleine Schneeflocken fielen langsam vom Himmel, seit der Wind kurz vor Weihnachten auf Ost gedreht und den Frost mit sich gebracht hatte. Sie wirkten erschöpft und zerlumpt.
Doch der Weiße Knecht wusste, der äußere Schein war trügerisch. Auch die Männer des Geheimrats konnten sich in zerfranste Kleidung hüllen und große Reden
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