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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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sprechen ihren Text nur noch nach vorne, zum Publikum hin. Manchmal könnte man dann durchaus auch zwei Figuren gleichzeitig sprechen lassen. Man weiß ja längst, was sie sagen und dass, was sie sagen, zu nichts führt.
    Das ist Oper, Augustus.
    Na und! Bitte, horch, die Gutsverwaltersfrau Polina Andrejewna, die nicht ihren Mann, sondern nur Dr. Dorn, den Arzt, liebt. Und singt: Die Zeit vergeht, wir werden nicht jünger. Wenigstens im Alter sollten wir uns nicht mehr verstecken müssen, nicht mehr lügen. Und gleichzeitig, Dr. Dorn: Ich bin fünfundfünfzig. Das ist zu spät, um sein Leben zu ändern. Und sie, gleichzeitig: Ich weiß, warum sie mich abweisen. Und so weiter. Schicksalssätze sind keine Dialogsätze mehr. Sie können nichts mehr bewirken. Sie drücken nur noch aus, wie das ist: unglücklich sein.
    Und das als Komödie!
    Richtig, Lydia, das als Komödie! Das IST die Komödie schlechthin, dass du nur deinen Text hast, nur deinen Text sagen kannst und weißt: Es bringt überhaupt nichts. Wenn das nicht komisch ist!
    Und das ohne Musik!
    Aber vielleicht entsteht da etwas Musikhaftes, wenn wir aus den Texten Arien oder Rezitative machen.
    Damit warten wir, bis du wieder auf der Bühne stehst.
    Hier sind alle viel zu nett mit einander! Stallhofer hat recht. Übrigens den sensationell konkreten Satz, dass sie sich in Moskau im Slawischen Basar treffen, den muss er sagen, als sage er, was für eine Unterwäsche Nina bei diesem Treffen tragen soll.
    Du Superrealist! Und hast keine Ahnung, dass ich, bevor ich zu dir pilgere, hin und her überlege, was für eine Unterwäsche ich anziehen soll. Und weiß doch, dass wir nicht mehr, nie mehr ins Bett kommen werden.
    Darum sind wir das richtige Team für die Möwe. Die Liebe für nichts! Das ist die Liebe als solche. Adieu.
    Gesten eines zärtlichen, aber temperaturlosen Abschieds.
    Bevor sie geht, zeigt sie noch auf einen Brief, den sie auf den Tisch gelegt hat.
    Für dich eingetroffen. Aus Amerika.
    Sie holt den Brief, gibt ihn Augustus. Er küsst ihr die Hand. Dann geht sie.

[zur Inhaltsübersicht]
    5
    Augustus öffnet den Brief und liest ihn sich vor. Er muss immer, wenn er etwas liest, mit dem Mund lesen. Sogar wenn er nicht laut liest: Der Mund muss aussprechen, was er liest.
Lieber Augustus Herzensfreund,
dass ich gelebt habe davon, dass andere mich wahrgenommen haben! Jetzt ist Schluss. Mit diesem Scheinleben. Aber mitteilen muss ich es doch noch. Und dann auch noch gleich Dir, dem einzigen Menschen, den ich Herzensfreund nennen kann. Große Worte. Ich bin eben allein. Ich komme mir vor wie ein ungeheurer Hallraum. Selbst Wörter, die ich nur denke, hallen noch nach. Nicht laut, aber lang. Noch bin ich allein. Du bist die einzige Adresse, die ich bedienen muss. Und tu’s sogar gern. Oder soll ich sagen: Wenn man keinen Freund mehr hat, hat man schon zu lange gelebt. Eine Zeit lang halten es einige aus mit einem. Aber je länger eine Freundschaft besteht, desto weniger Anlass hat sie. Es ist, als verbrauche sich der Freundschaftsstoff im Lauf der Zeit. Oder soll man sagen: Je genauer man einen anderen Menschen kennenlernt, desto weniger kann man mit ihm befreundet sein? Freundschaft, von allen Einbildungen die schönste. Wenn sie erlischt, könnte es einen frieren. Man selber würde noch an der Illusion festhalten, man tue alles, den Freund nicht merken zu lassen, dass man die Freundschaft über ihren Anlass hinaus eigensinnig, unbelehrbar weiter produziere, man ist schöpferisch, und dann merkt man am Freund, dass es dem noch viel mehr Mühe macht als einem selbst, die Freundschaft aufrecht zu erhalten. Zwei Freunde, die einander nicht sagen können, dass sie keine mehr sind, das ist das elendeste Verhältnis überhaupt. Es ist ein ganz genaues Bild des Todes. Wie überirdisch schön dagegen vor Jahren mein Freund Helu, Pfarrer von Beruf, wenn er anrief: Es ist niemand gestorben, ich kann kommen.
Muss ich dir sagen, was du ohnehin weißt? Dass ich in Starnberg nicht bleiben konnte. Dass es mich gleich bis nach Chestertown wirft, hat mich selber überrascht. Chestertown ist, glaube ich, gleich weit von Washington und Baltimore. CONDEMNED stand vorgestern an einem Slumhäuschen. Ich fühlte mich natürlich angesprochen. Heute war da nur noch frisch umgegrabener Boden.
Die steinschweren Vorhänge meines Zimmers müssen geschlossen sein. Jeder, der vorbeikommt, hätte sofort einen vollkommenen Überblick über das Zimmer. Man läge z.B. direkt vor ihm im

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