Die Intrige
Schließlich nickte er barsch.
»Ich sehe, mein Mitleid war unangebracht«, sagte er gepresst. »Ich sollte besser zum Fest zurückkehren.«
»Sehr wohl«, sagte die Königin. »Denn wer, außer Gott, weiß schon, wie lange es einem Sterblichen zu feiern vergönnt ist?«
HK begann zu klatschen.
»Bravo!«, rief er. »Was für eine Vorstellung!«
Jonas setzte sich auf den Hintern, die Suche nach dem Definator hatte er völlig vergessen.
»Vorstellung?«, wiederholte er benommen. »Du meinst, das war gar nicht echt? Es war alles nur Theater? Nur … gespielt?«
»Oh, das war durchaus echt«, versicherte ihm HK. »Aber gleichzeitig auch unglaubliches Theater, hast du das nicht gemerkt? Keiner von beiden konnte aus der Deckung kommen und sagen, was er oder sie wirklich denkt, und trotzdem haben es beide geschafft, ihre Botschaft zu vermitteln.«
»Das ist wie in der Schule. Wenn Caitlin Deets zu Alexis Raypole sagt: ›Boah, das T-Shirt steht dir aber gut. Macht dich echt schlank‹, dann ist das eigentlich gar kein Kompliment«, erklärte Katherine. »In Wirklichkeitsagt sie nämlich: ›Du bist hässlich und dick und hast nicht die geringste Chance, meine Freundin zu werden.‹ Und wenn Alexis dann zu Caitlin sagt –«
»Lass das, Katherine!«, unterbrach sie Jonas. »Das interessiert im Moment doch keinen!«
HK grinste.
»Trotzdem hat sie recht«, sagte er. »Es ist die gleiche Art von Doppelzüngigkeit. Richard hat seine eigene Krönungsfeier verlassen, um Elisabeth zu sagen: ›Hör zu, deine Söhne sind tot. Ich bin jetzt der König. Gib auf.‹ Er hat damit gerechnet, dass sie schwach und verzweifelt sein würde, sodass er sich großzügig und mitleidig geben könnte, als hätte er mit dem Tod ihrer Söhne überhaupt nichts zu tun. Aber sie hat ihm gesagt: ›He, du kannst mich nicht einschüchtern. Woher willst du so genau wissen, dass meine Jungen tot sind? Und selbst wenn, kannst du nicht sicher sein, ob ich nicht weiter so tue, als wären sie noch am Leben, und dafür sorge, dass meine Freunde eine Kampagne anzetteln, um sie oder jemand anderen auf den Thron zu setzen. Für heute mag die Krone dir gehören, aber das ist keine Garantie dafür, dass du nächste Woche auch noch am Leben bist!‹« HK führte die versteckten Botschaften beider Seiten mit solcher Begeisterung vor, dass er dabei die Fäuste schwang und in die Luft boxte. »Und das alles haben sie gesagt, ohne ein einziges unhöfliches Wort von sich zu geben.«
Jonas runzelte die Stirn. Drückten sich Menschenöfter so doppelzüngig aus – nicht nur Sechstklässlerinnen und mittelalterliche Adlige? Warum war ihm das bisher nicht aufgefallen? Er sagte meistens ganz direkt, was er dachte. Wer hatte es schon gern kompliziert?
Katherine verzog das Gesicht.
»Na ja … Caitlin Deets ist zwar ziemlich fies, aber nicht mal sie droht damit, jemanden umbringen zu wollen«, sagte sie skeptisch.
HK zuckte die Achseln.
»Und wenn sie in einer Gesellschaft leben würde, in der gewisse Arten von Mord als völlig akzeptabel gelten? Würde sie dann Morddrohungen ausstoßen?«, fragte er.
»Caitlin Deets? Aber klar, in null Komma nichts«, erwiderte Katherine. »Wahrscheinlich würde sie ihre Mitschüler mit bloßen Händen erwürgen.«
Jonas konnte sich nicht genau erinnern, welches der Mädchen in Katherines Klasse Caitlin Deets war: die Dünne mit der großen Nase, den langen blonden Haaren und den Dreifach-Piercings? Oder die Große, die ständig mit Plateausohlen und pinkfarbenen Klamotten herumlief? Wer immer sie auch sein mochte, er beschloss, ihr auf jeden Fall aus dem Weg zu gehen, falls er jemals ins einundzwanzigste Jahrhundert zurückkehren sollte.
HK wies auf den Bildschirm, auf dem König Richard langsam die Treppe hinabstieg.
»In der englischen Geschichte klebt zu diesem Zeitpunkt viel Blut am Thron«, sagte HK. »Die AdelsfamilienYork und Lancaster kämpfen seit dreißig Jahren um den Anspruch auf die britische Krone.«
»Aber Richard, Chip und Alex gehören alle zur selben Familie, nicht?«, hakte Jonas nach. »Außerdem sind Chip und Alex nicht tot. Warum haben die ›Mörder‹ Richard nicht erzählt, dass die Jungen entkommen sind? Soll er glauben, dass sie tot sind? Oder glaubt er es nur deshalb, weil wir ihm weisgemacht haben, dass er Geister gesehen hat?«
»Wenn du für einen König arbeiten würdest, der mitten in der Nacht Leute umbringen lässt, würdest du ihm dann sagen, dass du die Sache vermasselt hast?«,
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