Die Invasion - 5
Kirche zu reformieren und den beinahe allgegenwärtigen Amts- und Machtmissbrauch zu bekämpfen, war bei den Wylsynns längst zur Tradition geworden, von Generation zu Generation weitergegeben.
Und das ist ein verdammt riskantes Erbe!, ging es ihm düster durch den Kopf.
Eigentlich hätte er im Laufe der Jahre gegen zumindest ein Dutzend seiner Schueleriten-Kollegen nur zu gern Anklage erhoben - immer, wenn er die notwendigen Beweise hatte vorlegen können, ohne die weitergehenden, verdeckten und deutlich riskanteren Aktivitäten aufzudecken, in die ›der Kreis‹ verstrickt war. Mindestens zwei Mal hatten ihm absolut schlüssige Beweise dafür vorgelegen, dass die betreffenden Inquisitoren ihr Amt missbraucht hatten und von gänzlich unschuldigen Männern und Frauen Geld erpresst hatten (nicht zuletzt durch das bloße Aufzählen all der Dinge, die sie ihren Opfern kraft ihres Amtes würden antun können). Und einmal hatte Wylsynn beinahe schlüssige Beweise für einen Mord gehabt. Doch die höchste Strafe, die er hatte bewirken können, war eine einjährige Suspendierung vom Schueler-Orden gewesen ... Diese Strafe hatte einer der Erpresser erhalten, nicht der Mörder.
Es ekelte Samyl an, dass sein eigener Orden - der Orden, dessen Aufgabe es doch wahr, für die Reinheit der Seele der Kirche zu sorgen! - sogar noch korrupter war als all die anderen, die er hätte leiten und überwachen sollen. Doch es hatte keinen Sinn, sich vorzumachen, es sei anders. Und das Schlimmste war: Viele jener korrupten Inquisitoren waren sich nicht einmal bewusst, dass sie korrupt waren. Sie waren Teil eines Systems, das ungleich größer war als sie selbst. Sie sahen ihre Pflichten in genau der Art und Weise, die ihnen von Zhaspahr Clyntahn und seinem unmittelbaren Vorgänger beigebracht worden war. Die Vorstellung, dass sie ernstlich glaubten, Gottes Willen zu tun, war erschreckend. Aber Samyl Wylsynn war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass viele - zumindest viele jener Inquisitoren - es für die Wahrheit hielten.
Manchmal frage ich mich, ob Clyntahn eigentlich begreift, wie korrupt er ist. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich es. Er hält, was er tut, überhaupt nicht für Korruption, und das ist wahrscheinlich das Schlimmste an ihm. Ich glaube, er macht wirklich keinerlei Unterschied zwischen dem, was er will, und dem Willen Gottes. Das ist für ihn ein- und dasselbe. Deswegen ist es seiner Ansicht nach auch sein Recht, alles - wirklich alles! - zu tun, um seine Ziele zu erreichen. Alles, was die Autorität der Kirche (und seine eigene) stärkt, ist gut und göttlich; alles was die Autorität der Kirche (und seine eigene) bedroht, ist das Werk Shan-weis. Und keiner der anderen, außer dem ›Kreis‹, kümmert sich auch nur das geringste bisschen darum, solange es nur für sie funktioniert - solange es ihnen nur Geld, Macht und Privilegien verschafft.
Die Wahrheit war, dass Samyl die gleichen Ansichten hatte wie Maikel Staynair und die Kirche von Charis. Niemandem aber wagte er das zu sagen, nicht einmal seinen Brüdern aus dem ›Kreis‹. Die Kirche des Verheißenen war hoffnungslos korrupt, gefangen im Griff von Leuten wie Clyntahn und dem Rest der ›Vierer-Gruppe‹. Selbst wenn es Samyl gelänge, Clyntahn und Trynair zu stürzen, gäbe es zumindest ein Dutzend weiterer Vikare, die bereit wären, in die Fußstapfen der ›Vierer-Gruppe‹ zu treten und weiterzumachen, als wäre nichts passiert. Es hatte keinen Sinn, sich diesbezüglich etwas vorzumachen.
Aber auch im Vikariat gibt es gute, gottesfürchtige Männer, widersprach er sich selbst störrisch. Das ist der einzige Grund, warum du nicht längst aufgegeben hast und an einen Ort wie Chans geflüchtet bist.
Aber sich an dieser Überzeugung festzuhalten fiel Samyl zunehmend schwer. Und dieses Gefühl der Verzweiflung, auf das man selbst in den höchsten Kreisen der Kirche traf, seit die Charisianer der ›Vierer-Gruppe‹ Widerstand entgegensetzten, war zutiefst erschreckend. Denn es war, als sei nun jeder bereit, wirklich alles zu tun, um einen Ausweg zu finden. Was vor dem Schisma lediglich gefährlich gewesen war, war absolut lebensgefährlich geworden. Vor allem nach dem entsetzlichen Schicksal, das Erayk Dynnys zuteil geworden war, gab sich Samyl Wylsynn diesbezüglich keinerlei Illusionen mehr hin. Verängstige Menschen würden sich wie wilde Tiere auf jeden stürzen, der ihre eigene Sicherheit oder ihren Posten zu bedrohen schien. So waren die
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