Die Invasion - 5
heraus immer weiter verdarben, genau das zugelassen hatten. Weil so viele von ihnen ganz genau das Gleiche taten - und die Konsequenzen waren für so viele andere noch ungleich entsetzlicher gewesen als für Ahnzhelyk selbst. Das war es, was ihren Zorn und ihre Entrüstung genährt hatte ... Und es war die Liebe zu dem, was die Kirche eigentlich hätte sein sollen, was Ahnzhelyk dazu brachte, sich gegen das aufzulehnen, was die Kirche in Wahrheit war.
Und jetzt das!
Erneut überflog sie die Abschrift der Jahresansprache. Ebenso wie der Mann, der den zugehörigen Brief abgefasst hatte, sah auch sie nur eines: Die Männer - und Frauen, setzte sie innerlich hinzu (das Eis in ihren Augen erwärmte sich, als sie an Adorai Dynnys und Sharleyan von Charis dachte) -, die es wagten, offen die Hand gegen jene Korruption und Verderbtheit zu heben, gegen die Ahnzhelyk seit so langer Zeit insgeheim vorging, sollten zermalmt werden. Das wusste Ahnzhelyk ebenso gut wie jedes der Mitglieder des Rates der Vikare, die diese Ansprache verfasst hatten. Ahnzhelyk erkannte eine offizielle Erklärung der Politik, für die sich die ›Vierer-Gruppe‹ entschieden hatte, wenn sie sie vor sich sah.
Ich weiß gar nicht, warum mich das immer noch so ... überraschen kann, dachte sie. Es war doch ganz offensichtlich, dass es daraufhinauslaufen würde. Wahrscheinlich habe ich insgeheim einfach nur immer weiter darauf gehofft, es könne doch anders kommen.
Erneut dachte sie an Adorai. Ahnzhelyk hatte nur einen einzigen Brief von Erayk Dynnys' Witwe erhalten, seit diese sicher Charis erreicht hatte. Zur Vorsicht hatte man diesen Brief über zahlreiche Umwege geschickt. Die Art und Weise, wie Adorai Erzbischof Maikel und König - nein, Kaiser! - Cayleb und Kaiserin Sharleyan darin beschrieb, hatte Ahnzhelyks Herz erwärmt. Dass Adorai und ihre Söhne in Sicherheit waren, dass man ihr in Charis Schutz bot, und auch die Art und Weise, in der sie die so genannten Ketzer von Charis beschrieb, verrieten Ahnzhelyk Phonda, wer in diesem gewaltigen, drohenden Konflikt in Wahrheit auf der Seite Gottes stand. Und die dräuenden Wolken des aufziehenden Gewittersturms breiteten sich allmählich über den Himmel von ganz Safehold aus.
Noch einen Moment lang blieb Ahnzhelyk nachdenklich sitzen. Dann atmete sie scharf ein, straffte ihre zierlichen Schultern und griff erneut nach dem Papier auf ihrem Schreibtisch. Sie stapelte die Blätter sorgfältig, dann schob sie sie in ein Geheimfach, das man geschickt in ihren Schreibtisch eingebaut hatte. Ihre Gedanken umkreisten die Anweisungen, die dieser Brief ohne Unterschrift enthalten hatte. Ahnzhelyk fragte sich, zu welchem Schluss Wylsynn und die anderen Vikare und Priester seiner Gruppe von Reformern hinsichtlich der Kirche von Charis kommen würden. Angesichts seiner Anweisung, dafür zu sorgen, dass die Abschrift der Ansprache des Großvikars nach Charis gelange, gaben auch die Reformer sich wohl nur wenigen Illusionen hin, wer tatsächlich Gott diente und wer nur der Verderbtheit und der Korruption folgte. Doch waren diese Männer schon weit genug, um bewusst zu begreifen, was ihre Herzen ganz offenkundig bereits verstanden hatten?
Ahnzhelyk wusste es nicht. Ebenso wenig, wie sie wusste, ob dieses neue Kaiserreich Charis sich als stark genug erweisen würde, dem Sturm zu trotzen, der sich bereits jetzt zusammenbraute. Doch Ahnzhelyk wusste genau, wo sie stand, und so nickte sie entschlossen, während ihr all dies noch einmal durch den Kopf ging.
Sie erhob sich, ging zum Fenster hinüber, blickte in die trübe, winterliche Schönheit des Schnees hinaus, und ihre Gedanken überschlugen sich fast, als sie versuchte, sämtliche anderen Informationen zu ordnen, die sie bereits über den Rat der Vikare und die Absichten der ›Vierer-Gruppe‹ zusammengetragen hatte. Alles davon hatte sie auch an Wylsynn und seinen ›Kreis‹ weitergeleitet. Aber sie hatte auch stets Abschriften dieser Berichte verwahrt. Sie wusste nicht, wie viel davon Charis vielleicht nützlich sein mochte, doch diese Entscheidung brauchte sie auch nicht zu fällen. Diese Aufgabe konnte Adorai übernehmen, wenn Ahnzhelyk ihr das alles erst einmal hatte zukommen lassen.
Ist es wirklich so einfach? Sie blickte einem Fußgänger hinterher, der sich mühselig über den Gehweg dahinschleppte. Er musste sich gegen den beißenden Wind lehnen und hatte den Mantel dicht um den Leib geschlungen. Ist es so einfach, von einer Verfechterin von Reformen
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